Erzeugung > Zum Kriterium der »Experimentierbarkeit« bezüglich der standardisierten Logik

Im Vergleich zu den bisher untersuchten, Medien verändernden Aktivitäten, ist das Experimentieren am zielgerichtetsten. Es setzt nicht bei Null an, sondern kombiniert verschiedene Medien systematisch miteinander, um nachvollziehbare Resultate zu erhalten und neue Standards setzten zu können. Spielen oder Erproben sind Tätigkeit, deren Zweck eher im Tun selbst liegt und deren Resultate für die Erfahrung nicht unbedingt über die momentane Aktivität hinaus stabil sein müssen. Demgegenüber ist das Resultat eines experimentierenden Prozesses nicht nur auf leichte Nachvollziehbarkeit seiner Entstehung, sondern bereits auf die Festlegung neuer standardisierter Logiken für nachfolgende Interaktionen angelegt.

Patrick Süskinds Roman »Das Parfum« von 1985 führt dem Leser den Prozess zur Erzeugung von Medien in aufbauender Reihenfolge vom Spielen über das Erproben zum Experimentieren, beziehungsweise zum Designen, anhand seiner Hauptfigur Grenouille, die sich durch einen besonders ausgeprägten Geruchssinn auszeichnet, vor Augen. Zunächst sammelt und verändert Grenouille spielerisch Gerüche im Gedächtnis, dann erprobt er deren Herstellung durch Mischen von vorhandenen Essenzen, schließlich experimentiert er mit den Duftstandards, entwickelt gezielt bestimmte Ausgangsessenzen und erzeugt ganz neue Düfte. Grenouille ist nicht damit zufrieden, etwas nachgemacht zu haben, um damit spielerisch oder erprobend seine durch organische oder kontextuelle Medien gegebene Möglichkeiten zu verändern. Er will über das Verändern innerhalb fester Rahmenbedingungen hinausgehen und einen neuen unüberbietbaren Duftstandard schaffen. Wie in dieser Geschichte entstehen auch in anderen Bereichen, in denen das Kriterium der Experimentierbarkeit zum wichtigsten Inhalt der Erfahrung überhaupt wird, durch den Drang nach Grenzüberschreitungen immer auch Konflikte. Seien diese durch die Beschränktheit der eigenen Fähigkeiten, mangelnde Ressourcen oder soziale Restriktionen verursacht. Dies gilt sowohl im persönlichen Lebensbereich, als auch in öffentlichen Bereichen wie beispielsweise in der wissenschaftlichen Forschung. Die Gefahr von Konflikten ist insbesondere dann gegeben, wenn sich das ästhetische Kriterium der Experimentierbarkeit mit der imaginativen Qualität (vgl. Kapitel 2.2.3) und der explorativen Tendenz (vgl. Kapitel 3.2.3) verkoppelt. Diese Gefahr ist zu beachten, wenn Designer ihrerseits ihre Tätigkeit primär als eine experimentelle verstehen und in dem Drang nach Neuem alle anderen Kriterien der ästhetischen Erfahrung vernachlässigen.

Das innovative Potential von Design kann dem Kriterium der Experimentierbarkeit dadurch entsprechen, dass es beispielsweise seinerseits durch experimentelles Kombinieren mit bekannten Standards neue Standards erzeugt und in der Folge die Nutzer zu experimentellen oder auch erprobenden Interaktionen und Erfahrungen anregt. Die experimentelle Nutzung bleibt meist den Fachleuten vorbehalten.

Beispiel für das innovative Potential von Design

In der Architektur galt die Verwendung von großen Glasflächen bis zur Anwendung experimenteller Messmethoden und neuer Fertigungsverfahren als besonders energieverschwendend. Inzwischen wurden neue Glasarten entwickelt, die eine bessere Energiebilanz als andere Baustoffe aufweisen und dadurch zur Reduktion des Wärmehaushalts beitragen. Dadurch wird eine Glasarchitektur möglich, die ihren Nutzern und Bewohnern innovative Erfahrungen für ihre Interaktion mit der Welt erschließt und Impulse zum weiteren Experimentieren gibt. So entwickelte der Architekt Rolf Driesch ein gläsernes Haus, das mit Solarenergie versorgt wird, auf einem drehbaren Sockel gelagert ist und sich nach dem Sonnenstand bewegt.

Michael Thonet (1796­1871) ging vom Standard der Furnierformtechnik aus, experimentierte mit massivem Holz und erfand die Bugholztechnik. Deren innovatives Potential kam nicht nur durch neue Formen und Konstruktionen für Möbel, sondern durch neue Vermarktungsstrukturen zur Entfaltung. Diese wurden insbesondere bei dem Stuhl »No. 14» durch den platzsparenden Transport und die leichte Montage möglich. Der Designer Charles Eames (1907­1978) experimentierte mit gebogenem Sperrholz und kombinierte deren Standards mit dem neuen Material der Kunststofflaminate. Das innovative Potential der bis dahin unbekannten Sitzschalen lag in der Leichtigkeit und Stapelbarkeit der Möbel, wodurch auch innovative Umgangsweisen mit dem Mobiliar angeregt wurden.

Durch experimentelles Kombinieren von bekannten und neuen Medien oder Technologien auf der Basis der standardisierten Logik entsteht neues. Dieses muss das Alte nicht zwangsläufig verdrängen. Trickfilme werden weiterhin durch Nutzung bewährter Techniken hergestellt, aber der erste komplett durch Computeranimation entstandene Film »Toy Story« von John Lasseter erzählt mit innovativen technischen Mitteln eine pädagogisch wertvolle und unterhaltsame Kindergeschichte. Er schafft innovative ästhetische Erfahrungen auch deshalb, weil er sich zwar auf die standardisierte Logik des gezeichneten Trickfilms bezieht, darüber hinaus aber auch neue Effekte und Tricks einsetzt. Anknüpfend an die Ergebnisse Neville Brodys, der auf experimentelle Weise bekannte Darstellungsstandards wie Collage oder Montage auf die Typografie übertrug und seine einzigartigen handgeschnittenen Schriften erfand, ermöglichte die Computertechnologie innovative typographische Experimente mit digitalisierten Handschriften.