Zum Kriterium der »Bedürfnisgerechtheit« bezüglich der somatischen Tendenz

Ein Bedürfnis der somatische Tendenz macht sich durch ein Gefühl von nervöser Anspannung, die sich auf einen bestimmten Bereich des Körperschemas richtet, bemerkbar. Die grobe Richtung eines Bedürfnisses wie Hunger, Durst, Sehnsucht nach Streicheleinheiten, Bewegungsdrang usw. bringt sich recht eindeutig ins Bewusstsein Schwieriger ist die spezielle Bestimmung, wodurch der Hunger gestillt werden kann, wie der Bewegungsdrang auszuleben ist. Wird kein der Anspannung und dem Bedürfnis entsprechendes Verhalten eingeleitet, fordert der Körper durch Stressreaktionen die Aufmerksamkeit. Es ist daher wichtig zu lernen, das eigene Körperschema ständig zu aktualisieren und die Signale des Körpers richtig zu interpretieren. Vielen Menschen kommt dieses Gespür heute abhanden. Mitschuld daran sind Visionen mancher Computerforscher, die wie Hans Moravec oder vorher Norbert Wiener, die Überwindung des Körperlichen durch zukünftige intelligente, zur Selbstreplikation fähigen Roboter voraussagen, von der Unnötigkeit des Leibes für den Geist ausgehen und das Körperliche gegenüber dem Geistigen degradieren. Sie stehen in der langen, das Denken vieler Wissenschaftler prägenden Tradition der idealistischen und rationalistischen westlichen Philosophie. Dagegen bezieht die östliche Philosophie das Körperliche stark ein.

Ungeachtet aller Zukunftsphantasien wie die von William Gibson in seinen Science Fiction Geschichten geschilderten beliebig veränderbaren Cyber-Körper oder der Experimente des australischen Künstlers Stelarc mit technischen Erweiterungen seines Körpers, hat jeder Mensch noch immer nur den einen Leib, in dem sich seine Seele und Lebenszeit konkretisiert. Es bleibt daher im Streben nach Lebensqualität notwendig, die aufkommenden Bedürfnisse der somatischen Tendenz interpretieren zu lernen und nicht wiederholt durch Ersatzangebote abzubauen, da dies dem eigenen Wohlbefinden und der Gesundheit dauerhaft schadet.

Im medizinischen Bereich ist es besonders wichtig, sich bei einer unklaren Diagnose langsam an die Ursache eines Schmerzgefühls, das ja auch eine Art von Bedürftigkeit darstellt, heranzutasten. Hierzu werden verschiedene Untersuchungsmethoden genutzt. Ebenso muss eine diffuse somatische Anspannung zunächst einmal nach ihrer spezifischen Tendenz diagnostiziert werden, indem körperlichen Empfindungen und Erfahrungen nachgespürt wird, um dann die weitere Aktivitätsrichtung zu selektieren. Bei der Auswahl, ob dem Hungergefühl eher mit Schmalzbroten oder mit Salaten abzuhelfen ist, sollte das körperliche Gedächtnis als Referenzebene fungieren und signalisieren können, ob der Körper in dieser Situation eher Fett oder Ballaststoffe benötigt. Das sensitive Potential von Design könnte dem Kriterium der Bedürfnisgerechtheit entsprechen, indem es den Aufbau dieses Gedächtnisses fördert, dabei hilft, es zu verfeinern und ein Gespür für die Deutung der spezifischen Ursache eines Bedürfnisses zu bewahren.

Beispiel für das sensitive Potential von Design

Nahrungsmittel werden zunehmend industriell gefertigt. Food-Design erhält dadurch wachsende Bedeutung, denn es gibt die Rezepturen und Geschmacksrichtungen vor. Durch künstliche Aroma- oder Farbzugaben, Verdickungs- und Streckungsmittel sind viele Nährstoffe weder an ihrem puren Geschmack zu erkennen, noch mit ihrer Wirkung auf den Körper zu verbinden. Anstelle selbst ein Gespür für die Nahrungsmittel, die der Körper benötigt, zu entwickeln, entsteht Abhängigkeit von dem speziellen Geschmack und der Zusammenstellung eines Industrieprodukts. Hier müssten im Interesse der Konsumenten neue Möglichkeiten gefunden werden, trotz oder gerade durch den Einsatz von Nahrungsmitteltechnik eine gesunde, den verschiedenen Bedürfnissen entsprechend differenzierte und geschmacklich ausgewogene Kost anzubieten. Um Kindern ein bewussteres Empfinden für Nahrung zu vermitteln, führen einige Schulen lebenspraktische Unterricht durch, indem morgens gemeinsam ein Frühstück zubereitet und verzehrt wird.

In der Deutung von Bedürfnissen nach körperlicher Bewegung sind viele Menschen völlig ungeübt und wissen nicht, mit welcher Bewegung sie eine momentane Anspannung beheben können. Das sensitive Potential müsste auch die Zeitgestaltung des institutionalisierten Schul- und Arbeitstags umfassen, um mehr Gelegenheiten zu schaffen, zwischendurch Bewegungsbedürfnisse auszuleben und Körpererfahrungen aufzubauen (vgl. Kapitel 5).