Zum Kriterium der »Direktheit« bezüglich der somatischen Tendenz

Während einer Sightseeing-Tour in einer fremden Stadt ergreifen Touristen häufig unmittelbar jede Gelegenheit, die sich zum kurzfristigen Hinsetzen und Ausruhen des Körpers bietet. Darüber, ob sich ein Geländer, ein Stein, eine Treppe, ein Brunnenrand usw. zum bequemen Sitzen eignet, wird nicht lange kognitioniert. Die Anknüpfung scheint direkt möglich zu sein. Aufgrund solcher Beobachtungen entwickelte James J. Gibson eine Theorie der »direkten Wahrnehmung«, die er in seinem Hauptwerk »Die Wahrnehmung der visuellen Welt«, 1973, darlegte. Wie die konstuktivistische Wahrnehmungstheorie lehnt auch Gibson Repräsentationsmodelle, von denen die Kognitivisten ausgehen, ab. Seine Begründung hierfür basiert allerdings konträr zur Annahme der Konstruktivisten, dass Wirklichkeit eine vom menschlichen Organismus abhängige Konstruktion ist, auf der These, der Organismus sei im Lauf der Evolution für die unmittelbare Aufnahme von Informationen aus der Umwelt optimiert worden. Dieser Ansatz wurde für die vorliegende Untersuchung bereits verworfen (vgl. Kapitel 1.3).

Interessant bleibt die Beobachtung Gibsons, dass Menschen hinsichtlich der somatischen Tendenz mit großer Direktheit Anschluss zu dem vorgefundenen Reizmaterial herstellen können. Gibson beschreibt dies mit dem Begriff der Affordanz, des Aufforderungscharakters eines Objekts. Zum Werfen werden Dinge genommen, die greifbar sind, zum Anlehnen werden Dinge gesucht, die stabil sind, zum Streicheln werden Dinge berührt, die haptisch reizvoll sind usw. Durch diese Beobachtungen erlangte Gibsons Ansatz in der Designtheorie Bedeutung, denn er stellt die Wichtigkeit der speziellen Beschaffenheit, des Designs von Dingen heraus. Was heißt es aber zu sagen, dass ein Stuhl zum Sitzen, ein Türgriff zum Greifen, ein roter Knopf zum Drücken, eine Treppe zum Hinaufgehen usw. je besser auffordert, desto direkter sein Design wahrnehmbar ist? Design wird dann über eine instruktive Funktion definiert, die dazu beiträgt, das selbstbestimmte Verhalten eines Individuums ähnlich dem Reiz-Reaktions-Ansatz auszuklammern oder abzuwerten.

Trotz dieser Kritik an der designtheoretischen Adaption von Gibsons Ansatz, ist Direktheit als eine Art unmittelbarer Anschließbarkeit in der Interaktion mit Objekten der Umwelt bezüglich der somatischen Tendenz ein wichtiges Kriterum für das sensitive Potential von Design. Dies gilt insbesondere in Situationen, die schnelles Handeln erfordern und hinsichtlich allen Tätigkeiten, welche vom einzelnen nur selten ausgeübt werden und für die deshalb keine körperliche Routine vorausgesetzt werden kann. Die Art und Weise des entsprechenden sensitiven Potentials ist durch möglichst eindeutig interpretierbare, direkte Aktivierungsmöglichkeiten zu charakterisieren, um zu betonen, dass letztlich das Individuum handelnder Akteur bleibt und nicht durch den Begriff des Aufforderungscharakters.

Beispiel für das sensitive Potential von Design

Auto oder einem Feuerlöscher sollte möglichst direkt erfassbar und ausführbar sein. Durch dem sensitiven Potential von Design entsprechende Gestaltung der Bedienelemente, seien dies Druckknöpfe, Haltegriffe oder Dosenverschlüsse, muss eine möglichst unmittelbare kognitive Anschließbarkeit und eine problemlose Handhabung erreicht werden. Bewegliche Teile müssen als solche zu erkennen sein. Die Art der Bedienung wie Drücken oder Ziehen sowie eine Vorstellung des Kraftaufwands sollte direkt in das Agieren einfließen können. Manchmal ist es dagegen notwendig, die Direktheit als Kriterium des Subprozesses der Anknüpfung zu erschweren, bzw. Aktivierungsmöglichkeiten zu verstecken wie bei der Gestaltung von Schutzeinrichtungen ­ Drehverschlüsse, Steckdosenabdeckungen, TV-Sicherungen ­ für Kinder.

Zum Kriterium der »Wohligkeit« bezüglich der somatischen Tendenz

Nach der positiven Bewältigung einer körperlichen Aufgabe und dem Abklingen der emotionalen Intensität der Gegenwärtigkeit kommt das Gefühl einer anhaltenden Wohligkeit auf. Das somatisches Feedback der Wohligkeit wird als Stärkung der körperlichen Kondition erlebt. Ob der Körper objektiv eine Funktionssteigerung aufweist ist in diesem Zusammenhang zweitrangig; wichtig ist das subjektive Fühlen eines stärkeren Körperschemas und tieferer Vertrautheit mit dem eigenen Körper.

Wohligkeit heißt, sich wie ein Fisch im Wasser zu fühlen, sicher, locker, wohl in der eigenen Haut. Aktuelle Umfragen zu den Erwartungen an sportliche Aktivität sind dahingehend interpretierbar, dass Menschen weniger die Teilnahme an sportlichen Leistungswettkämpfen anstreben, als vielmehr Erlebnisse suchen, welche die Kombination aus lustvollem, Gegenwärtigkeit vermittelndem Kick und dauerhaftem Wohlbefinden vermitteln (vgl. Opaschowski, 1997). Das sensitive Potential kann körperliche Erholung und das Empfinden von Wohligkeit unterstützen, indem in Körpernähe ein Resonanzraum geschaffen wird, der die somatischen Aktivitäten, wie Atemrhythmus, Herzschlag, Körpertemperatur, sanft auffängt und bestätigend zurückgibt.

Beispiel für das sensitive Potential von Design

Autogenes Training oder die therapeutische Wirkung von alternativen Heilmethoden wie die Behandlung mit Düften, Klängen, Licht, Wärme oder Massage basieren auf dem Prinzip der positiven Stärkung des Bio-Feedbacks. Diesem Effekt setzt auch die Technologie der Mind Machines des Wissenschaftsteams FOCUS ein (vgl. Ars Electronica, Virtuelle Welten, Linz 1990). Körper und Computer werden durch Sensoren, die den körperlichen Zustand messen und deren Daten mittels Software in Töne und Lichtreize transformiert werden, verbunden. Durch auf den individuellen Biorhythmus abgestimmte audiovisuellen Impulse, die von einer Brille und Kopfhörern übertragen werden, um den Nutzer von störenden Umweltreizen abzuschirmen, wird der Hypothalamus direkt stimuliert, bis die erwünschte Wohligkeit eintritt.

Zum Kriterium der »Bedürfnisgerechtheit« bezüglich der somatischen Tendenz

Ein Bedürfnis der somatische Tendenz macht sich durch ein Gefühl von nervöser Anspannung, die sich auf einen bestimmten Bereich des Körperschemas richtet, bemerkbar. Die grobe Richtung eines Bedürfnisses wie Hunger, Durst, Sehnsucht nach Streicheleinheiten, Bewegungsdrang usw. bringt sich recht eindeutig ins Bewusstsein Schwieriger ist die spezielle Bestimmung, wodurch der Hunger gestillt werden kann, wie der Bewegungsdrang auszuleben ist. Wird kein der Anspannung und dem Bedürfnis entsprechendes Verhalten eingeleitet, fordert der Körper durch Stressreaktionen die Aufmerksamkeit. Es ist daher wichtig zu lernen, das eigene Körperschema ständig zu aktualisieren und die Signale des Körpers richtig zu interpretieren. Vielen Menschen kommt dieses Gespür heute abhanden. Mitschuld daran sind Visionen mancher Computerforscher, die wie Hans Moravec oder vorher Norbert Wiener, die Überwindung des Körperlichen durch zukünftige intelligente, zur Selbstreplikation fähigen Roboter voraussagen, von der Unnötigkeit des Leibes für den Geist ausgehen und das Körperliche gegenüber dem Geistigen degradieren. Sie stehen in der langen, das Denken vieler Wissenschaftler prägenden Tradition der idealistischen und rationalistischen westlichen Philosophie. Dagegen bezieht die östliche Philosophie das Körperliche stark ein.

Ungeachtet aller Zukunftsphantasien wie die von William Gibson in seinen Science Fiction Geschichten geschilderten beliebig veränderbaren Cyber-Körper oder der Experimente des australischen Künstlers Stelarc mit technischen Erweiterungen seines Körpers, hat jeder Mensch noch immer nur den einen Leib, in dem sich seine Seele und Lebenszeit konkretisiert. Es bleibt daher im Streben nach Lebensqualität notwendig, die aufkommenden Bedürfnisse der somatischen Tendenz interpretieren zu lernen und nicht wiederholt durch Ersatzangebote abzubauen, da dies dem eigenen Wohlbefinden und der Gesundheit dauerhaft schadet.

Im medizinischen Bereich ist es besonders wichtig, sich bei einer unklaren Diagnose langsam an die Ursache eines Schmerzgefühls, das ja auch eine Art von Bedürftigkeit darstellt, heranzutasten. Hierzu werden verschiedene Untersuchungsmethoden genutzt. Ebenso muss eine diffuse somatische Anspannung zunächst einmal nach ihrer spezifischen Tendenz diagnostiziert werden, indem körperlichen Empfindungen und Erfahrungen nachgespürt wird, um dann die weitere Aktivitätsrichtung zu selektieren. Bei der Auswahl, ob dem Hungergefühl eher mit Schmalzbroten oder mit Salaten abzuhelfen ist, sollte das körperliche Gedächtnis als Referenzebene fungieren und signalisieren können, ob der Körper in dieser Situation eher Fett oder Ballaststoffe benötigt. Das sensitive Potential von Design könnte dem Kriterium der Bedürfnisgerechtheit entsprechen, indem es den Aufbau dieses Gedächtnisses fördert, dabei hilft, es zu verfeinern und ein Gespür für die Deutung der spezifischen Ursache eines Bedürfnisses zu bewahren.

Beispiel für das sensitive Potential von Design

Nahrungsmittel werden zunehmend industriell gefertigt. Food-Design erhält dadurch wachsende Bedeutung, denn es gibt die Rezepturen und Geschmacksrichtungen vor. Durch künstliche Aroma- oder Farbzugaben, Verdickungs- und Streckungsmittel sind viele Nährstoffe weder an ihrem puren Geschmack zu erkennen, noch mit ihrer Wirkung auf den Körper zu verbinden. Anstelle selbst ein Gespür für die Nahrungsmittel, die der Körper benötigt, zu entwickeln, entsteht Abhängigkeit von dem speziellen Geschmack und der Zusammenstellung eines Industrieprodukts. Hier müssten im Interesse der Konsumenten neue Möglichkeiten gefunden werden, trotz oder gerade durch den Einsatz von Nahrungsmitteltechnik eine gesunde, den verschiedenen Bedürfnissen entsprechend differenzierte und geschmacklich ausgewogene Kost anzubieten. Um Kindern ein bewussteres Empfinden für Nahrung zu vermitteln, führen einige Schulen lebenspraktische Unterricht durch, indem morgens gemeinsam ein Frühstück zubereitet und verzehrt wird.

In der Deutung von Bedürfnissen nach körperlicher Bewegung sind viele Menschen völlig ungeübt und wissen nicht, mit welcher Bewegung sie eine momentane Anspannung beheben können. Das sensitive Potential müsste auch die Zeitgestaltung des institutionalisierten Schul- und Arbeitstags umfassen, um mehr Gelegenheiten zu schaffen, zwischendurch Bewegungsbedürfnisse auszuleben und Körpererfahrungen aufzubauen (vgl. Kapitel 5).

Zum Kriterium der »Verwachsenheit« bezüglich der somatischen Tendenz

Das Kriterium der Verwachsenheit bezeichnet die stabile Einschließung von allem, die somatische Tendenz betreffendem Wichtigen durch das Körperschema. Beispielsweise werden Schmerzen die phasenweise wiederkommen nicht nur emotional erlebt. Wenn sie kognitiv erklärbar sind, verwachsen sie schließlich mit dem Körperschema und erscheinen weniger unangenehm. Ebenso stellt sich zu anderen wiederkehrenden wichtigen Erfahrungen der somatischen Tendenz eine selbstverständliche Verwachsenheit ein. Das sensitive Potential von Design unterstützt diese Verwachsenheit.

Beispiel für das sensitive Potential von Design

Menschen, die körperlich arbeiten verwachsen nach einiger Zeit mit ihren Arbeitsgeräten. Ihre Motorik und ihr Krafteinsatz ist genau auf die Erfordernisse des Geräts abgestimmt. Hierdurch können Haltungsschäden auftreten, die von den Betroffenen nicht unbedingt schmerzhaft erlebt werden, denn man hat sich an die mit der Arbeit verbundenen Körpergrenzen gewöhnt. Trotzdem kommt dem sensitiven Potential von Design in diesem Fall die Aufgabe zu, durch Neuentwicklung der Geräte diesen negativen Auswirkungen auf den Körper entgegenzuwirken. So kamen viele kräftige LKW-Fahrer auch ohne Servo-Lenkung mit ihren Fahrzeugen zurecht und waren mit ihrem Gefährt verwachsen, doch inzwischen erleichtert die Gestaltung der Fahrerkabinen auch weniger kräftigen Fahrern die Arbeit.

Viele Sportler, die für große Firmen werben, benutzen individuell auf ihre Anforderungen zugeschnittene Spezialanfertigungen der Produkte. Für sie ist es von Wichtigkeit, ihre Motorik exakt auf die erforderlichen Bewegungsabläufe hin zu trainieren und mit ihren Sportgeräten völlig verwachsen zu sein. Jede Umstellung durch neue Materialeigenschaften oder Maßveränderungen der Geräte muss durch vermehrtes Üben kompensiert werden.

Als Stradivari des Pop wird Jerry Auerswald im Zeit-Magazin (vgl. Die Zeit, Nr. 20, 1997) bezeichnet. Er spielt selbst Gitarre und baut Instrumente, die speziell für die Fingertechnik und die Motorik seiner bekannten Kunden konzipiert sind. Das sensitive Design des Gitarrenbauers geht auf die Verwachsenheit der Musiker mit ihren Instrumenten ein. Dadurch können Gitarristen während einem Konzert mehrere unterschiedlich klingende Instrumente benutzen, ohne die Handhaltung bei jedem Wechsel umstellen zu müssen.

Zum Kriterium der »Einübbarkeit« bezüglich der somatischen Tendenz

Die somatische Erfahrungswelt als Teilbereich der Kognition beinhaltet alles psychomotorisch Erlernte. In Fortführung einer direkten Anknüpfung an ein Reizangebot durch das Kriterium der Einübbarkeit kann die somatische Tendenz in diesem Bereich eine eigendynamische Sinnhaftigkeit entwickeln. Das sensitive Potential von Design sollte auf diese Einübbarkeit abgestimmt sein und auf ihr aufbauen, um ihre sinnvolle Weiterentwicklung zu fördern. Als Vorstufe zum Kriterium der Verwachsenheit, durch welches die wichtigsten Körpererfahrungen stabilisiert werden, bleiben für das Kriterium der Einübbarkeit noch Variationen innerhalb dem Sinnzusammenhang ähnlicher Körperbewegungen offen. Das sensitive Potential von Design unterstützt das Kriterium der Einübbarkeit durch Möglichkeiten der individuellen Anpassung eines Produkts auf körperliche Erfordernisse.

Beispiel für das sensitive Potential von Design

Bei der Auswahl eines neuen Fahrrads steht die Fähigkeit zum Radfahren oder die Funktionsfähigkeit des Rades meist außer Frage. Hauptkriterium ist vielmehr die Prüfung, ob das Körpergefühl beim Radfahren mit dem neuen Rad zusammenpasst. Rahmen, Sattel- und Lenkerhöhe usw. sollen so beschaffen sein, dass eine Haltung eingenommen werden kann, die ein Körpergefühl von leichter Einübbarkeit und Beweglichkeit vermittelt.

Einen Sinnzusammenhang hinsichtlich Gleichartigkeiten von Bewegungserfordernissen bieten Sportarten wie Surfen, Snowboarden, oder Skaten an. Die Geübtheit in einigen Bewegungsabläufen ist durch die Gestaltung nach dem Kriterium der Einübbarkeit auf ähnliche Sportarten übertragbar und weiterentwickelbar.

Inwieweit Designer Konzepte für das sensitive Potential einbringen können, ohne selbst entsprechende Körpererfahrungen in dem jeweiligen Gebiet eingeübt zu haben, ist fraglich. Insbesondere Sportgeräte, Turnschuhe und weitere Ausrüstungsgegenstände sind nicht aufgrund theoretischer Vorgaben oder formalästhetischer Gesichtspunkte gestaltbar. Beispielsweise wird die Designabteilung für Sportschuhe bei der Firma Nike nicht von einem studierten Schuhdesigner geleitet, sondern von einem ehemaligen Läufer.

Zum Kriterium des »Entspannbarkeit« bezüglich der somatischen Tendenz

Wird eine motivierte Aktivität zu schnell durch prompte Zielerfüllung beendet, bleibt erstens keine Zeit, das wiederhergestellte Gleichgewicht qualitativ zu werten und wirkliche Befriedigung zu empfinden, zweitens gibt es keine Möglichkeit zur individuellen Regulierung der weiteren Aktivität. Für die Qualität einer Erfahrung unter dem Schwerpunkt der Motivation bezüglich der somatischen Tendenz ist daher das Kriterium der Entspannbarkeit im Zusammenhang mit deren individuell dosierbarer Herbeiführung zu beachten.

Aktuelle Forschungen der Medizinerin Linda Bartoshuk zur Geschmackssensibilität im Vergleich zur Häufigkeit der Geschmacksknospen auf der Zunge legen nahe, dass etwa ein Viertel der Menschen Superschmecker, ebensoviele Schlechtschmecker und der Rest Normalschmecker sind. Um den Hunger nach Sahnetorte zu befriedigen und die Entspannung der somatischen Tendenz zu erreichen, müssen die Schlechtschmecker mehr Torte essen als die Superschmecker und tatsächlich bestätigte sich die Vermutung, dass Schlechtschmecker im Durchschnitt korpulenter sind. Das unbewusste Ziel, welches der Prozess der Motivation anstrebt zum Beispiel eine Sättigung bei Hunger wird durch langsames, dosiertes und geschmacksprüfendes Essverhalten nachhaltiger erfüllt als durch hastiges Schlingen.

Diese Trägheit des somatischen Spannungsabbaus ist kommerziell ausnutzbar. Beispielsweise indem bei den kleinen Jahrmarktsattraktionen zunächst der Tendenz nach körperlichem Erleben entsprochen wird, die Fahrzeiten aber so kurz eingestellt sind, dass eine Fahrt meist nicht ausreicht, um eine befriedigende Spannungslösung zu erreichen. Wenn es nicht gelingt, dem körperlichen Rhythmus von Anspannung und Entspannung durch individuell dosierbare und regulierbare Aktivität zu entsprechen, kann die somatische Tendenz sich zu drängendem Suchtverhalten entwickeln. Auch Aggressivität kann aus dem unbefriedigten Drang nach individuell bemessener körperlicher Aktivität und dem unerfüllten Kriterium der Entspannbarkeit entstehen. Daher sind durch das sensitive Potential Gelegenheiten anzubieten, die es erlauben, eine auf die somatische Tendenz bezogene Motivation beispielsweise im sportlichen Kräftemessen auszuleben sowie dosiert und regulativ zu gestalten, damit nachhaltige Entspannung eintreten kann.

Beispiel für das sensitive Potential von Design

Durch industrielle Fertigungserfordernisse sind seit dem letzten Jahrhundert individuelle Dosierungen in allen Lebensbereichen mit durchschnittlichen Portionierungen, die dem ergonomisch erfassten Standardmenschen entsprechen, ersetzt worden. Einer Anspannung soll ein bestimmtes, portioniertes Aktivitätsziel zum Spannungsabbau entsprechen. Bereits ein Baby wird dazu angehalten, sein Portionsgläschen leer zu essen oder mit dieser festgesetzten Menge auszukommen. Im Medizinbereich, der das umfassendste Wissen zum Körper zusammenträgt, gibt es noch Defizite. Obwohl es die heutige Herstellungstechnik von Kapseln erlauben würde, Dosierungen nach individuellem Bedarf herzustellen, werden weiterhin einheitliche Portionen gefertigt, wobei es oft sogar unmöglich ist, eine Tablette zu halbieren, da diese dann ihre Wirkstoffe zu früh freisetzt. Die Beachtung des Kriteriums der Entspannbarkeit könnte in der Pharmaindustrie und auch in der Lebensmittelindustrie zu neuen und besseren Produkten führen. Die Verpackung von Getränken in wiederverschließbaren Flaschen ist im Sinne des sensitiven Potentials von Design günstig, da mit diesen der momentanen Anspannung, bzw. dem Durstgefühl entsprechend portioniert werden kann. Dementsprechend müsste beispielsweise auch eine Chipstüte mit Restinhalt sauber verschließbar sein und attraktiv aussehen.

Im Bereich der Kleidung können körperliche Veränderungen wie dickere Beine am Nachmittag oder der gefüllte Magen nach dem Essen zu Anspannungen führen, die durch entsprechende Details wie dehnbares Material, Zweifachverschlüsse im Design abzubauen und zu regulieren sind. Weshalb sollten nicht auch Produkte in anderen Bereichen durchdachter und vielfältiger konzipiert sein, um sensitive Dosierung und Regulierung der körperlichen Entspannung zu unterstützen? Beispielsweise lehnen viele Menschen Zeitungen wie »Die Zeit« nicht wegen ihres Inhalts, sondern dem großen Format, das ihnen beim Lesen körperliche Haltungsprobleme bereitet, ab. Neue Zeitungen wie »Die Woche«, mit kleinerem Format, finden hierdurch ein Marktsegment.

Bereits bestehende Konzepte für Maßschneiderei in Kaufhäusern oder ein Baukastensystem für individuelle Bettenproduktion zeigen, dass es kein Luxus bleiben muss, Produkte, die somatische Anspannungen, wie Rückenschmerzen, abbauen, kompensieren oder regulieren sollen, speziell einjustierbar und nuanciert zu gestalten. Insbesondere die computergesteuerte Fertigung erleichtert die Produktion differenzierter, nach dem Kriterium der Entspannbarkeit gestalteter Produkte.

Zum Kriterium der »Begierigkeit« bezüglich der somatischen Tendenz

Der Organismus wird aus einer Kombination von genetischen und erlernten Programmen gesteuert. Untersuchungen belegen, dass dem Menschen durch die Gene eine Abneigung vor blau aussehenden Nahrungsmitteln mitgegeben ist. Das Ekelgefühl gegenüber bestimmten Gerüchen von Essbarem kann aber auch in negativen subjektiven Erfahrungen gründen. Wenn beispielsweise nach dem Verzehr einer Speise Übelkeit auftrat, erinnert sich der Körper später wieder an dieses Ereignis und reagiert ablehnend auf Geruch, Geschmack oder Farbe ähnlicher Speisen. Solche Gewohnheiten entwickeln sich ebenso gegenüber positiven Körpererfahrungen und den mit ihnen verbundenen sinnlichen Reizen und sind die Basis für das Zustandekommen von Begierde bezüglich dem Subprozess der Zuneigung in Relation zur somatischen Tendenz. Die intuitive emotionale Bewertung der Reizangebote aufgrund dieser gewachsenen Erfahrungen muss nicht unbedingt mit den tatsächlichen Wirkungen auf den Organismus konform gehen und die Begierigkeit kann auch ohne konkrete Begegnung mit einem äußeren Reiz, allein durch die subliminal erzeugte innere Vorstellung einsetzen. Das Kriterium der Begierigkeit beinhaltet bereits eine differenzierte emotionale Erstbewertung. Das heißt, in diesem Zusammenhang ist mit Durst nicht die allgemeine Vorstellung von irgendeinem Getränk verknüpft, sondern eine bestimmte Weinsorte und ein spezielles Trinkgefühl.

Mittels dem sensitiven Potential von Design sind Reizangebote entsprechend dieser emotionalen, körperlichen Begierigkeit zu gestalten. Zudem sind durch speziell gestaltete Angebote neue Vorlieben erzeugbar.

Beispiel für das sensitive Potential von Design

Die Glasfirma Riedel ist bekannt für die besonders sensible, auf die Geschmacks- und Geruchsentfaltung von Getränken abgestimmte Gestaltung von Trinkglasserien. Solche Gläsern vermitteln ein spezielles Trinkgefühl. Die Begierigkeit als Kriterium für die körperliche Zuneigung zu einem Getränk weitet sich dann sogar auf die Verwendung eines bestimmten Glastyps aus. Passionierte Pfeifenraucher stellen sich, wenn der Gedanke an das Rauchen aufkommt, eine bestimmte Pfeife und den passenden Tabak vor. Appetit richtet sich auf ganz bestimmte Speisen, deren gleichmäßige Zubereitung beim Restaurantbesuch erwartet wird.

Lebensmittelhersteller setzen das sensitive Potential von Design zum Beispiel ein, indem sie nach umfassenden Marktforschungstudien Geschmacksnuancen konzipieren, um ihr Produktsortiment zu erweitern und neue Käufer zu gewinnen. So bietet die Firma Dr. Oetker Kuchenfertigmischungen an, die einen Geschmack wie bei Oma garantieren oder Knorr geht mit den Produkten zur internationalen Küche auf die Geschmackserlebnisse im Urlaub ein und sogar ein relativ neutrales Produkt wie Speiseöl wird durch Zugabe von Basilikumaroma charakterisiert.

Auch bei Autoherstellern spielt das sensitive Potential von Design in Form der Konzeption eines typischen, wieder erkennbaren, vom ganzen Körper spürbaren Fahrgefühls, das zur Unterstützung der Produktbindung beiträgt, eine Rolle. Zu diesem Fahrgefühl gehört der berühmte, satte Klang der zuschlagenden Tür bei Mercedes ebenso wie die harte Federung eines Geländefahrzeugs oder die unbequemen Sitze eines Sportwagens. Ein Käufer, der auf das körperliche Fahrgefühl Wert legt, wird den gleichen Autotyp nur dann nochmals erwerben, wenn auch die Modellvariante seine zuvor entwickelte Begierigkeit intuitiv stimuliert.

Zum Kriterium der »Gegenwärtigkeit« bezüglich der somatischen Tendenz

Das körperbezogene Glücksgefühl drückt sich in der Erlebnisqualität von Gegenwärtigkeit aus. Im Hier und Jetzt übersteigt das körperliche Erleben von positiver Intensität die Einflüsse der anderen subliminalen Tendenzen und hebt den Unterschied zwischen innen und außen, vorher und nachher auf. Neben den körperlichen Erfahrungsbereichen von Erotik und Sexualität vermitteln vor allem positiv motivierte körperliche Arbeit, Sport und Musik erfreuende Emotionen, die im gegenwärtigen Erleben zur Entfaltung kommen und daher durch das Kriterium der Gegenwärtigkeit zu bewerten sind.

Eine körperliche Stimulanz der Endorphine oder Glückshormone durch entsprechende Drogen ohne körperliche Bewegung erzeugt nicht die gleiche Qualität von Gegenwärtigkeit, weil das mit der Körperaktivität verbundene somatische Feedback fehlt. Für dieses glaubt der Physiologe Neil Todd (vgl. New Scientist, Bd. 2047, S. 10) eine Erklärung gefunden zu haben, die den Reiz solch unterschiedlicher Aktivitäten wie Tanzen bei lautstarker Musik, Bungee-Jumping, Rafting oder Motorradfahren betrifft. Ein Teil des Innenohrs, der Sacculus, der ebenso für das Hören, wie für die Gleichgewichtsfindung zuständig ist, verursacht bei Stimulanz ein Bewegungsgefühl, das durch die somatische Tendenz zu mehr Aktivität und zur Verstärkung des Gefühls drängt. Extremsportler werden durch zunehmende Gewöhnung regelrecht süchtig nach Steigerung von Geschwindigkeit oder Lautstärke. Normale Körperaktivität reicht nicht aus, um dieses Feedback zu stimulieren. So hat die Empfehlung von Karl Schallaböck vom Wuppertal Institut, Aktivität und ökologisches Bewusstsein miteinander zu verbinden und öfters mal zu Fuß zu gehen keine große Attraktivität für Bewegungshungrige. Das sensitive Potential muss daraufhin angelegt sein, körperliche Belastungsproben im Alltag nicht völlig auszuräumen und zusätzlich durch positive, risikoarme Tätigkeitsangebote intensive körperliche Aktivitätserfahrung zu fördern.

Einige Bereiche, in denen das sensitive Potential im beschriebenen Sinne zum Einsatz kommt, werden aufgrund der Geringschätzung des Körpererlebens und dem Mangel an entsprechenden persönlichen Erfahrungen von Theoretikern diskriminiert. Doch der somatische Drang nach der Erfüllung der Sinne und dem Genießen der Körperlichkeit gehört zum Menschsein und ist auch aus historischen Schilderungen und Erfahrungsberichten von extremen Erlebnissen, insbesondere im Zusammenhang mit kriegerischen Auseinandersetzungen bekannt. Diese Bereiche sollten auch von Designern aufgegriffen werden, um die Thematisierung der somatischen Tendenz nicht denjenigen zu überlassen, die dem Kriterium der Gegenwärtigkeit von Körperempfindungen einzig durch extreme Reize, die spontan Emotionen wie blinde Faszination oder Aggressivität auslösen, entgegen kommen.

Beispiel für das sensitive Potential von Design

Viele Fahrgeschäfte auf Jahrmärkten bieten ein intensives, erfüllendes Erlebnis von Gegenwärtigkeit an. Das ungewohnte Bewegungsgefühl bei weitgehend garantierter Sicherheit erfreut die Menschen. Die intellektuelle Missachtung solcher Erlebnisangebote konnte ihren Erfolg nicht bremsen und ist ungerechtfertigt, denn das komplexe Design von Achterbahnen ist längst eine Angelegenheit für Experten.

Die Techno-Musik basiert nicht auf melodischen Kompositionen, sondern auf dem sensitiven Potential von subliminalen Wirkungen auf die ästhetische Erfahrung durch Klänge und Rhythmen. Filme für Kinos mit Imax-Technlogie, die eine Panorama-Projektionswand mit beweglichen Zuschauerplätzen kombiniert, haben nicht in erster Linie die Aufgabe, eine gute Geschichte zu erzählen, sie sind vielmehr durch das sensitive Potential dahingehend zu gestalten, dass sie eine intensive Körpererfahrung des gegenwärtigen Beteiligtseins am Geschehen ermöglichen. Auch Computerspiele, die Autorennen oder Flugerfahrungen simulieren, bieten eine ungefährliche Möglichkeit des intensiven Auslebens der somatischen Tendenz an.

Küchenutensilien zur Zubereitung der Speisen und zum Servieren vom Kochtopf bis zum Serviettenhalter haben nicht nur die Aufgabe gebrauchsgerecht zu funktionieren, sondern dienen darüber hinaus dem die Sinne erfreuenden und der somatischen Tendenz entsprechenden Genuss beim Kochen und Essen. Das Kriterium der Gegenwärtigkeit kann gerade bezüglich dem alltäglichen Vorgang des Essens qualitativ gefördert werden und die Vielfalt der Speisen sollte sich auch in der Vielfalt der Service, Gläser und Bestecke ausdrücken. So hat es sich die Bewegung »Slow Food« zur Aufgabe gemacht, alles was zur Leibesfreude des Essens gehört, zu kultivieren. Denn letztlich trägt eine Erfüllung der Sinne und das positive Erleben von körperlicher Gegenwärtigkeit auch zu einer Abkehr von kalter, distanzierter Oberflächlichkeit und einer Bereicherung der Herzensbildung bei. Da nicht jedermann in seiner eigenen Küche diese Qualität erreichen kann, ist die Gastronomie gefordert, auch breiteren Zielgruppen einen genussvollen Umgang mit Nahrung, wenn auch nicht jeden Tag, so doch bei Gelegenheit zu ermöglichen.

Zum Kriterium der »Sensibilität« bezüglich der somatischen Tendenz

Manche Menschen erwachen sehr leicht, wenn sich an ihrem Zustand etwas ändert. Der Anlass kann von außen kommen wie ein Geräusch oder ein kühler Luftzug oder von innen wie ein Hungergefühl oder ein schlechter Traum. Auch im Wachzustand nimmt der Körper durch seine Sensibilität dauernd das Bereitschaftspotential in Anspruch und kann dadurch die Konzentrationsfähigkeit für bewusste Tätigkeiten stören. Ob übersteigerte Sensibilität durch den situativen Kontext, der den körperlichen Verhaltensdrang zu stark einschränkt, oder organische Reaktionen verursacht ist, bleibt oft unklar. So kann die Hyperaktivität von Kindern als Kompensierung des aufgezwungenen Stillsitzens in der Schule oder als Energieüberschuss durch Überzuckerung des Organismus gedeutet werden. Die Ursache von chronischen Schmerzen wird als gegen den eigenen Körper gerichtete Reaktion des Immunsystems interpretiert oder auf schwierige Lebensumstände zurückgeführt.

Aus diesen Alltagsbeobachtungen ist bezüglich dem Kriterium hoher Sensibilität als Bereitschaft zur somatischen Tendenz zu folgern, dass sich das Körperliche während bewusst eingeschlagenen Motivationstendenzen in verschiedensten Formen durchsetzt. In der speziellen genetischen Prägung der körperlichen Konstitution manifestiert sich Individualität. Diese muss in das zwischenmenschliche Zusammenleben integriert werden. Deshalb ist ein Großteil bewusster individueller und sozialer Anstrengungen darauf gerichtet, die körperliche Sensibilität entsprechend den jeweiligen kulturellen Konventionen zu regulieren (s. o. zu Freud und Elias). Diese im öffentlichen Leben geforderte Körperkontrolle kann zur Abschottung gegenüber jeglichen somatischen Reizen führen. Ein Niesreiz, ein Lachreiz oder das Gefühl, sich strecken zu müssen, werden ebenso unterdrückt wie sexuelle Regungen.

Ein zweiter Grund für mangelnde Sensibilität bezüglich der somatischen Tendenz resultiert aus der Diskrepanz zwischen registrierten Umweltreizen und der inneren Kapazität, diese zu verarbeiten. Die persönliche Reizschwelle wird dann zum Schutz erhöht und matte Farben, leise Töne, feine Formen fallen durch das subliminale Raster. Die Bereitschaft zur sensiblen Registrierung von unterschiedlichen Reizen auf gleichen und verschiedenen Intensitätsniveaus ist die wichtigste Voraussetzung für die Untersuchung aller weiteren, die somatische Tendenz betreffenden ästhetischen Kriterien. Deshalb sollte das sensitive Potential darauf angelegt sein, durch das Angebot differenzierter Reizniveaus, die Fähigkeit zur Sensibilität zu wecken, zu erhalten und auszubauen.

Beispiel für das sensitive Potential von Design

Hersteller von hochwertigen Beschichtungsmaterialien für Oberflächen erforschen das Verhältnis zwischen der Rauhigkeit des Materials und der Hautfeuchtigkeit sowie dem Temperaturgefühl bei Berührung. Lackhersteller entwickeln Autolacke, die bei Änderungen des Lichteinfalls ihre Farbreflexion verändern. Die Autos wirken dadurch weniger plakativ auffallend, als vielmehr sensibel und in immer neuer Weise reizvoll.

Die Planung eines Supermarkts kann aus kommerziellem Interessen mittels dem sensitiven Potential von Design die Sensibilität unterstützen. Indem die Waren nicht durch Barrieren verstellt werden, wird die Bereitschaft der Kunden zur sensiblem Registrierung verschiedenster Produkte gefördert.Anstelle rechtwinkliger Regalführung kann die Wegeführung dem Rollradius des Einkaufwagens angepasst sein, um störendes, holpriges Schieben zu vermeiden. Die Gemüsetheke lädt beim Selbstabwiegen zum Spiel mit dem Tastsinn ein. Die Hand gleitet über glatte Tomaten, feine Folien, knubbelige Nüsse, bauschigen Salat usw. Beleuchtung mit unterschiedlichen Lichtwellen markiert den Übergang in die nächste Zone.

Bedienelemente werden durch sanfte Wölbungen oder Vertiefungen auf die haptische oder durch Klickgeräusche auf die akustische Sensibilität abgestimmt. Ein Kranführer bewegt zwar große Lasten, muss diese jedoch sehr sensibel steuern. Eine Kassiererin tippt nur Zahlen ein, muss aber das sichere Feedback spüren, jede Taste richtig aktiviert zu haben.

Plakate oder Titelseiten sollen Aufmerksamkeit wecken. Wenn sie aber generell ein zu starkes Reizniveau erreichen, werden sie nicht mehr differenziert registriert. Formatwechsel, unterschiedliche Farbsättigung, verschiedene Papierqualitäten erfordern eine eher sensible Beachtung.