Zum Kriterium der »Sensibilität« bezüglich der somatischen Tendenz

Manche Menschen erwachen sehr leicht, wenn sich an ihrem Zustand etwas ändert. Der Anlass kann von außen kommen wie ein Geräusch oder ein kühler Luftzug oder von innen wie ein Hungergefühl oder ein schlechter Traum. Auch im Wachzustand nimmt der Körper durch seine Sensibilität dauernd das Bereitschaftspotential in Anspruch und kann dadurch die Konzentrationsfähigkeit für bewusste Tätigkeiten stören. Ob übersteigerte Sensibilität durch den situativen Kontext, der den körperlichen Verhaltensdrang zu stark einschränkt, oder organische Reaktionen verursacht ist, bleibt oft unklar. So kann die Hyperaktivität von Kindern als Kompensierung des aufgezwungenen Stillsitzens in der Schule oder als Energieüberschuss durch Überzuckerung des Organismus gedeutet werden. Die Ursache von chronischen Schmerzen wird als gegen den eigenen Körper gerichtete Reaktion des Immunsystems interpretiert oder auf schwierige Lebensumstände zurückgeführt.

Aus diesen Alltagsbeobachtungen ist bezüglich dem Kriterium hoher Sensibilität als Bereitschaft zur somatischen Tendenz zu folgern, dass sich das Körperliche während bewusst eingeschlagenen Motivationstendenzen in verschiedensten Formen durchsetzt. In der speziellen genetischen Prägung der körperlichen Konstitution manifestiert sich Individualität. Diese muss in das zwischenmenschliche Zusammenleben integriert werden. Deshalb ist ein Großteil bewusster individueller und sozialer Anstrengungen darauf gerichtet, die körperliche Sensibilität entsprechend den jeweiligen kulturellen Konventionen zu regulieren (s. o. zu Freud und Elias). Diese im öffentlichen Leben geforderte Körperkontrolle kann zur Abschottung gegenüber jeglichen somatischen Reizen führen. Ein Niesreiz, ein Lachreiz oder das Gefühl, sich strecken zu müssen, werden ebenso unterdrückt wie sexuelle Regungen.

Ein zweiter Grund für mangelnde Sensibilität bezüglich der somatischen Tendenz resultiert aus der Diskrepanz zwischen registrierten Umweltreizen und der inneren Kapazität, diese zu verarbeiten. Die persönliche Reizschwelle wird dann zum Schutz erhöht und matte Farben, leise Töne, feine Formen fallen durch das subliminale Raster. Die Bereitschaft zur sensiblen Registrierung von unterschiedlichen Reizen auf gleichen und verschiedenen Intensitätsniveaus ist die wichtigste Voraussetzung für die Untersuchung aller weiteren, die somatische Tendenz betreffenden ästhetischen Kriterien. Deshalb sollte das sensitive Potential darauf angelegt sein, durch das Angebot differenzierter Reizniveaus, die Fähigkeit zur Sensibilität zu wecken, zu erhalten und auszubauen.

Beispiel für das sensitive Potential von Design

Hersteller von hochwertigen Beschichtungsmaterialien für Oberflächen erforschen das Verhältnis zwischen der Rauhigkeit des Materials und der Hautfeuchtigkeit sowie dem Temperaturgefühl bei Berührung. Lackhersteller entwickeln Autolacke, die bei Änderungen des Lichteinfalls ihre Farbreflexion verändern. Die Autos wirken dadurch weniger plakativ auffallend, als vielmehr sensibel und in immer neuer Weise reizvoll.

Die Planung eines Supermarkts kann aus kommerziellem Interessen mittels dem sensitiven Potential von Design die Sensibilität unterstützen. Indem die Waren nicht durch Barrieren verstellt werden, wird die Bereitschaft der Kunden zur sensiblem Registrierung verschiedenster Produkte gefördert.Anstelle rechtwinkliger Regalführung kann die Wegeführung dem Rollradius des Einkaufwagens angepasst sein, um störendes, holpriges Schieben zu vermeiden. Die Gemüsetheke lädt beim Selbstabwiegen zum Spiel mit dem Tastsinn ein. Die Hand gleitet über glatte Tomaten, feine Folien, knubbelige Nüsse, bauschigen Salat usw. Beleuchtung mit unterschiedlichen Lichtwellen markiert den Übergang in die nächste Zone.

Bedienelemente werden durch sanfte Wölbungen oder Vertiefungen auf die haptische oder durch Klickgeräusche auf die akustische Sensibilität abgestimmt. Ein Kranführer bewegt zwar große Lasten, muss diese jedoch sehr sensibel steuern. Eine Kassiererin tippt nur Zahlen ein, muss aber das sichere Feedback spüren, jede Taste richtig aktiviert zu haben.

Plakate oder Titelseiten sollen Aufmerksamkeit wecken. Wenn sie aber generell ein zu starkes Reizniveau erreichen, werden sie nicht mehr differenziert registriert. Formatwechsel, unterschiedliche Farbsättigung, verschiedene Papierqualitäten erfordern eine eher sensible Beachtung.