Selektion > Zur Strategie der »Diversifizierung« bezüglich der initiativen Option

Die menschliche Gesellschaft ist nur idealisierend als Ganzes zu betrachten. Durch kommunikative Entwicklungsprozesse bilden sich vielfältige, veränderliche Ausformungen der typischen sozialen Organisationsstrukturen. Ästhetische Vorlieben, beispielsweise für geometrische, kantige Formen oder blumige Farben, verändern sich mit der Pesönlichkeitsentwicklung. Diese Lebensvielfalt erfordert die Bereithaltung vielfältiger Angebote für die ästhetische Erfahrung. Obwohl die Möglichkeiten für ästhetische Erfahrungen durch die Bedingungen der menschlichen Körperlichkeit eingeschränkt sind, macht es nach den vorangegangenen Überlegungen weder Sinn anzunehmen, dass manche ästhetischen Elemente zeitlos sind, noch dass andere für immer veralten. Es wird immer wieder neue Kombinationen und Deutungen von bereits bekannten ästhetischen Elementen geben.

Deshalb bleibt die an dem Ideal der Zeitlosigkeit orientierte, ästhetische Konzeption der Moderne wie der »Internationale Style« in der Architektur, die Bauhaustypografie in der visuellen Kommunikation oder die »Neue Sachlichkeit« für Gebrauchsgegenstände nur eine von anderen möglichen Ausformungen, welche mit dem Engagement für die emanzipative Perspektivität von Design entstanden. Doch der humanistische Kern des linearen Aufklärungsgedankens der Moderne geht nicht verloren, sondern wird im pluralistischen Denkansatz der Postmoderne in unterschiedlichen Ausformungsrichtungen weitergeführt (vgl. Welsch, 1987).

Die pluralistische Sehweise nimmt nicht eine einzige richtige, sondern viele, in sich geschlossene Weltsichten an, die sich nicht auf eine gemeinsame Grundlage ­ wie die biologische Konstitution, Denk- oder Sprachstrukturen ­ zurückführen lassen. Erfahrung, Denken, Sprache und Lebensform beeinflussen sich gegenseitig und führen deshalb zu vielfältigen Organisationsstrukturen und Traditionen innerhalb sozialer Systeme sowie im Denken und der Erfahrung sozialer Akteure. Dementsprechend gehen Theorien zum gesellschaftlichen Wandel nicht mehr von einer eindimensionalen gesamtgesellschaftlichen Weiterentwicklung aus. Durch die Parallelität von unterschiedlichen Lebensweisen als Ausdruck verschiedener Lebensziele hat die Idee der ästhetischen Moderne insoweit an Faszination verloren, als sie vorwiegend nur eine Entwicklungsrichtung, die auf mehr Rationalität abzielt, unterstützt. Die Annahme mehrerer gleichwertiger und paralleler Entwicklungsrichtungen beinhaltet gleichzeitig den Verzicht auf die alles umfassende Anführerrolle einer intellektuellen Avantgarde.

In Anknüpfung an Luhmann sind soziale Systeme als Produkte von Kommunikation zu definieren und von den personalen Systemen, die sich durch Bewusstsein auszeichnen und der Umwelt sozialer Systeme zugehören, zu unterscheiden. Um die Entwicklung sozialer Systeme beeinflussen zu können, muss eine Person an der systemspezifischen Kommunikation teilnehmen und ihren Beitrag in eine dem jeweiligen System entsprechende kommunikative Form bringen. Es ist also besonders wichtig, als Voraussetzung für diese Kommunikationskompetenz, Ausdrucksfähigkeit und Unterscheidungsvermögen zu entwickeln. Im vorliegenden Zusammenhang kann diese Ausdrucksfähigkeit sprachliche, nonverbale oder künstlerische Aspekte umfassen.

Korrespondierend zur initiativen Option und der Strategie der Diversifizierung sollte die emanzipative Perspektivität von Design den Menschen, an die es sich richtet, keine für alle gleichermaßen verbindlichen Angebote zur Erfahrungsselektion vorgeben. Vielmehr sollte sie zur Entwicklung selbständiger Urteilskompetenz und einer aktiv mitbetriebenen Selektion von Erfahrungen anregen.

Beispiele für die emanzipative Perspektivität von Design

Die Idee der Universalisierung als einer fortschrittsbezogenen Erfahrungsselektion, an der, mit Hinblick auf die integrative Struktur und das kollektive Potential von Design möglichst alle Menschen teilhaben sollten, verliert zunehmend an Faszination. Denn es ist fraglich geworden, ob die Universalisierung einer auf Fortschritt ausgerichteten Erfahrungsselektion für alle Menschen den Weg in eine positive Zukunft weisen kann. Viele Menschen bevorzugen die initiative Option und deren Umsetzung durch die Strategie der Diversifizierung und die emanzipative Perspektivität von Design. Auch im Bereich der Wissenschaft weicht die Vorstellung eines Erkenntnisprozesses, der einem optimalen Stand zustrebt, zunehmend dem Bild eines vieldimensionalen Raumes, in dem mehrere Entwicklungsrichtungen für Erkenntnisprozesse möglich sind. Ebenso wird die an einem tradierten Selektionsprozess orientierte Fortführung von Erkenntnissen nicht mehr ausnahmslos positiv beurteilt, sondern in Bezug auf den Anwendungskontext bewertet. Der Aufwand zu Forschungen für die Nutzung von Atomenergie, die in der Tradition der modernen Wissenschaft steht, lähmte die Hinwendung zu alternativen initiativen Optionen wie der Solarenergie, der Windkraft oder der Erdwärme. Die letzten Optimierungen in der Schreibmaschinenindustrie sind rückblickend als Fehlentwicklungen zu werten. Es wurde nicht rechtzeitig erkannt, dass der Computer die Funktion der Schreibmaschine viel besser als diese erfüllen kann.

Im Hinblick auf die Erfahrungsselektion einer von der hierarchischen Struktur bestimmten Gesellschaft kann die Strategie der Diversifizierung zur Verhärtung der Hierarchien eingesetzt werden, wenn die emanzipative Perspektivität von Design nur Menschen auf höheren Ebenen der sozialen Hierarchie erreicht. So wird ein Großteil anspruchsvoller Zeitschriften oder kultureller Angebote wie Theater, Museen, Kleinkunst von Menschen mit höherer Schulbildung genutzt. Es bildet sich ein Insiderkreis, der durch Diskussionen, künstlerische und wissenschaftliche Produktion zur Diversifizierung der Erfahrungsselektion beiträgt. Dadurch vergrößert sich der intellektuelle Abstand zu Außenstehenden. Diese haben, selbst wenn Angebote im Sinne der emanzipativen Perspektivität von Design zur Verfügung stehen, selten genügend Freizeit, um sich in einen Themenbereich einzuarbeiten. Daher können sie an gesellschaftlich relevanten Entscheidungsprozessen, die von dem Insiderkreis initiiert werden, kaum kompetent mitwirken.

Wird die soziale Erfahrungsselektion schwerpunktmäßig von der polyvalenten Struktur und dem partizipativen Potential von Design bestimmt, so kann die emanzipative Perspektivität zu deren Diversifizierung beitragen. Mit der Entscheidung für die Gestaltung der Zukunft im Sinne der initiative Option ist der Abschied von der Annahme fundamentaler Wahrheiten verbunden. Denn zu einer prinzipiell demokratischen Grundeinstellung gehört das Bewusstsein um die schwierige Bestimmbarkeit fundamentaler Wahrheiten, die zudem davon abhängt, wer sie als solche definiert. Das Bemühen, allgemein verbindliche Wahrheiten zu finden, bildet traditionell einen Schwerpunkt der Philosophie. In der sozialen Lebenspraxis entscheidet jedoch selten die philosophische Argumentation darüber, was als Wahrheit gelten soll, sondern die Mächtigeren. In Umkehrung des Bacon’schen Diktums »Wissen ist Macht«, geben diejenigen, welche die Macht haben vor, was Wissen ist. Dies zu verhindern ist ein Anliegen der initiativen Option, welches in die emanzipative Perspektivität von Design einfließt. Daher wird die soziokulturelle Erfahrungsselektion als wandelbarer, vieldimensionaler, konstruktiver Prozess konzipiert. In diesem Sinne hat die »scientific community« die Aufgabe, einzelne Verzweigungen der Selektionsprozesse transparent darzulegen und vielen Menschen den Zugang zu ermöglichen, damit sie selber aktiv daran teilnehmen können und nicht zu Spielbällen von Machtinteressen werden.

Ein Weg, dem der poyvalenten Struktur entsprechenden partizipativen Potential von Design durch die emanzipative Perspektivität von Design eine langfristige Ausrichtung zu geben, besteht darin, ästhetische Elemente aus ihrem traditionellen Bedeutungszusammenhang der Vergangenheit zu lösen und in aktuelle Kontexte zu stellen. Dadurch werden die Nutzer dazu angeregt, neue Bedeutungen zu entwickeln oder etwas über die traditionelle Bedeutung zu erfahren, für die sie sich andernfalls nie interessiert hätten. Der Filmregisseur Peter Greenaway fügt in seinen Filmen, ästhetische Elemente aus dem persönlichen und dem kulturellen Gedächtnis zu einer neuen Komposition zusammen. Der Kommunikationsdesigner Neville Brody bezieht Elemente der Bauhaustypografie in seine Konzeptionen ein. Im Industriedesign entwarf Alessandro Mendini eine Türklinke, indem er den älteren Entwurf von Gropius mit einem neuen Material verband. Er nannte diesen Entwurf »Hommage an Gropius« und brachte Gropius dadurch wieder ins Bewusstsein. DJs verbinden Evergreens mit aktuellsten Rhythmen.