Während sich die subliminalen Tendenzen hauptsächlich auf die persönliche Erfahrungsakkumulation auswirken, lässt sich der maßgebende Einfluss der sozialen Strukturen auf die ästhetische Erfahrung mit der Erfahrungsselektion charakterisieren. Der individuellen Gedächtniskonstruktion durch die persönliche Erfahrungsakkumulation steht als Pendant die gemeinsame Konstruktion eines kulturellen Gedächtnisses (vgl. Assmann, 1992, 1992) durch die langfristige Erfahrungsselektion der sozialen Strukturen zur Seite. Dieses umfasst nicht etwa die Menge aller persönlichen Erfahrungen, sondern enthält nur solche Erfahrungen, die im Lauf der sozialen Wandlungsprozesse nicht vergessen wurden. Dadurch findet eine einschneidende Selektion von Erfahrungen statt.
Wie die individuelle Erfahrungsakkumulation je nach bevorzugter Perspektivität von Design Anregungen zur Vertiefung oder zur Erweiterung erfährt, so ist durch Design auch die Richtung der sozialen Selektionsprozesse mit zu beeinflussen. Diese Einflussnahme darf nicht bereits im Vorfeld auf höherer Ebene ohne Rücksicht auf die speziellen Interessen und Bedürfnisse der davon betroffenen Individuen erfolgen.
Soziale Selektion vollzieht sich in Zeitspannen, welche die individuelle Lebenszeit überschreiten können. Zum Verständnis, weshalb die je gegenwärtige soziokulturelle Wirklichkeitskonstruktion sich so und nicht anders darstellt, hilft ein Blick in die Vergangenheit. Deshalb besteht für Walter Benjamin die Hauptaufgabe der historischen Wissenschaft darin, durch Betrachtung der Vergangenheit diejenigen Erscheinungen herauszufiltern, in welchen die Gegenwart bereits sichtbar wird (vgl. Sandkühler, 1991, S. 14). Mittels dieser Vorgehensweise kann es gelingen, markante Entwicklungslinien herauszustellen. Sie kann aber auch dazu beitragen, dass das aus der jeweils gegenwärtigen Sicht Wichtige bewahrt und der Rest dem Vergessen preisgegeben wird. Demgegenüber vertritt der Historismus den Anspruch, jede Erfahrung, die soziokulturelle Wichtigkeit erlangte zu bewahren (vgl. Seiffert, 1991). Denn erstens werden aus dem je aktuellen Erkenntnisstand wiederum neue Einsichten aufgrund von historisch belegten Erfahrungen möglich, zweitens dürfen Menschen aus vergangenen Epochen oder »primitiven« Kulturen nicht instrumentalisierend hinsichtlich dem Zweck oder Wert ihrer kulturellen Produkte für die jeweils aktuelle Zeit eingeschätzt werden.
Es ist aussichtslos, ohne Vorauswahl alle Erfahrungsanlässe bewahren zu wollen, weil dann sämtliche Energien einer Gesellschaft an die Pflege ihrer Traditionspflege gebunden und für antizipierende Aktivitäten blockiert wären. Doch der offene die Würde jedes Lebens respektierende, von Verwertungsinteressen absehende Blick auf die Vergangenheit bringt das unendliche Potential für ästhetische Erfahrungen zum Vorschein, welches die Historie in sich birgt. Die Wertschätzung einer vergangenen, im Zuge der soziokulturellen Erfahrungsselektion auf der Strecke gebliebenen Lebensweise und der damit verbundenen Erfahrung muss nicht bedeuten, sie wiederholen zu wollen oder ihre Fehler nicht zu erkennen. Wichtig ist die Einübung einer unvoreingenommenen Beobachtungsweise, die sich von der Verhaftung an persönliche Gewohnheiten oder der Selektion durch soziale Konventionen und Normen löst. Dann erscheint das kulturelle Gedächtnis nicht als totes Archiv oder als linear fortschreitender Mechanismus, aus dem die Gegenwart mit zwanghafter Folgerichtigkeit entsteht, sondern als Fundus für vielfältige, lebendige Erfahrungsmöglichkeiten, die in der Gegenwart oder der Zukunft neue Beachtung und Bedeutung gewinnen können.
Es ist deshalb das Kennzeichen einer reichen Kultur, die vielfältige Erfahrungsqualitäten anbietet und trotz Selektion Lebensqualität nicht eindimensional fixieren will, dass sie möglichst viele Erfahrungen ressourcensparend bewahrt und für Erneuerungen bereit hält. Je nach vorherrschender sozialer Struktur und einer mit dieser verbundenen Bevorzugung der resonanten oder der initiativen Option im Blick auf die Zukunft, kann das Zustandekommen einer solchermaßen reichen Kultur gefördert oder behindert werden. Es liegt heute stärker denn je in der Verantwortung der Menschen, sich im Hinblick auf die Zukunft für die resonante oder initiative Option zu entscheiden und die Strategie der Universalisierung oder der Diversifizierung zu wählen.
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