Die explorative Tendenz drängt nach Aktivitäten in der unbekannten Außenwelt. Diese Welt verheißt, ob in Form von Wissensangeboten wie Bibliotheken und dem Internet oder in Form von Erlebnisangeboten wie Reisen, Sportereignissen, Museen, unvorhersehbare Überraschungen. Das einzelne Ereignis bremst den Aktivitätsdrang der explorativen Tendenz nur kurz ab, denn schon wird nach dem nächsten Ereignis Ausschau gehalten. Ruheloser Erlebnishunger, Wissensdurst oder Abenteuerlust wirken nach dem Motto der Textzeile »das nächste Tal kann noch grüner sein und da hinten glänzt Gold im Sonnenschein«, aus einem Song von Udo Lindenberg, als unaufhörlicher Antrieb. Die explorative Tendenz treibt auch die bewusste Erkenntnissuche an, die Goodman in seiner Interpretation der ästhetischen Erfahrung als deren wesentlichen Wert hervorhebt, indem er bezüglich der ästhetischen Tätigkeit betont:
»… der Anreiz in der Neugier und das Ziel in der Aufklärung liegen. Über das unmittelbare Bedürfnis hinaus werden Symbole um des Verstehens, nicht um der Praxis willen gebraucht; was uns treibt, ist der Wunsch nach Wissen, was uns Freude bereitet, ist die Entdeckung, und die Kommunikation ist gegenüber dem Erfassen und Formulieren dessen, was kommuniziert werden soll, sekundär. Der primäre Zweck ist Erkenntnis an und für sich; Brauchbarkeit, Wohlgefallen, Zwang und kommunikative Nützlichkeit, alle hängen von ihr ab.« (Goodman, 1997, S. 237)
Im Zusammenhang der vorliegenden Untersuchung wird die expolorative Tendenz nicht als wichtigste Quelle der ästhetischen Erfahrung definiert. Gleichwohl begleitet sie jedes engagierte wissenschaftliche Forschen, auch das in diesem Untersuchungsprojekt betriebene. Sie findet in der Erkenntnisfreude und der imaginativen Qualität als ästhetische Erfahrung ihre bewusste Ausprägung.
In der Vergangenheit hat die explorative Tendenz bereits verschiedene Ausformungen angenommen und soziale Wertungen erfahren, die in der Literaturgeschichte zum Ausdruck kommen. Im Unterschied zu den zuvor umrissenen Tendenzen entwickelt das Verhalten unter dem Einfluss der explorativen Tendenz in größerem Maß verändernde Tatkraft. Diese betrifft nicht nur die Erfahrung eines individuellen Akteurs. Sie beeinflusst auch andere Erfahrungskomponenten mit. Daher ist es sinnvoll, die Anregung zum Ausleben der explorativen Tendenz mit einem erzieherischen Anspruch zu verbinden. Beispielhaft stellt Hans Jakob C. von Grimmelshausens (1625-1676) Entwicklungsroman »Der abenteuerliche Simplicissimus« von 1669 dar, wie ein Abenteurer auf seiner Entdeckungsreise durch die Welt Erfahrungen sammelt, die ihn zur inneren Reife führen. Wolfram von Eschenbach (ca. 1170-1220) schildert in dem Epos »Parzival« von 1210 nach der Vorlage von Chrétien de Troyes (ca. 1191-1144) einen abenteuerlustigen Helden, der letztlich seine Energie durch die Suche nach dem Gral auf ein für alle lohnenswertes Ziel hin kanalisiert. Auch der Abenteurer Don Quijote aus dem gleichnamigen Roman von 1605 lässt nach dem Willen seines Schöpfers Miquel de Cervantes Saavedra (1547-1616) seiner explorativen Tendenz keinen freien Lauf, sondern schaltet seine Wertvorstellungen als Filter vor und interpretiert die Ereignisse trotz Irritationen im Sinne seiner Erwartungen und weltverbesserischer Anliegen. Dagegen stellt Homer um 800 v. Chr. in der bunten Schilderung der Abenteuer des Odysseus, der sich seiner explorativen Tendenz hingibt, keine belehrende Botschaft in den Mittelpunkt. Der Kinderbuchautor Janosch thematisiert einen wesentlichen Lerneffekt von explorativen Phasen in seiner Erzählung »Oh, wie schön ist Panama« von 1986, in der die Abenteurer nach einer Wanderung im Kreis wieder vor ihrem Haus landen, das sie nun mit neuen Augen sehen und mit stärkerer Zuneigung genießen.
All diese Beispiele verbindet die Gemeinsamkeit, dass die Entdeckungsreise der Hauptfiguren in irgendeiner Form zu einem Ende kommt. Dagegen repräsentieren die Science-Fiction-Serien, die mit »Raumschiff Enterprise« begannen, eine zeitgemäßere Umsetzung von modernen Vorstellungen zur explorativen Tendenz. Deren Aspekte und Lerneffekte werden als punktuelle Impulse auf einem unvorhersehbaren menschheitsgeschichtlichen Entwicklungsweg dargestellt, dessen Ende im Prinzip offen bleibt.
Bezüglich dieser aufklärerischen Weltvorstellung liegt die prinzipielle Bedeutung und Aktualität von Design in der Auffassung, dass die Entdeckung der punktuellen Impulse weder im Laufe des individuellen, noch des sozialen Auslebens der explorativen Tendenz allein dem Zufall überlassen werden darf, sondern durch strategisch geplante Angebote wenigstens ergänzt werden muss (vgl. Kapitel 6). Diese Überzeugung von der Möglichkeit einer bewussten Einflussnahme auf Veränderungstendenzen steht als Leitmotiv letztlich hinter jeder Kategorie von Design, auch wenn im Kontext dieser Analysen nicht von einer einzigen, richtigen, fraglos zu unterstützenden Tendenz die Rede sein kann. In diesem Sinne geben auch sensitives und animatives sowie die später zu analysierenden speziellen Ausrichtungen von Design mehr als nur zufällige Impulse.
Hinsichtlich der explorativen Tendenz sind zwei Bezüge zu Design hervorzuheben, die stärker als bei den anderen subliminalen Tendenzen dessen Einflussmöglichkeit auf die Erfahrungskonstruktion betonen. Erstens ist dies die Aufgabe, die drängende Neugier und auf alles einstürmende Kraft der explorativen Tendenz zu zähmen und in konstruktive Bahnen zu lenken. Zweitens geht es darum, gezielte Anstöße zur Förderung eines positiven Entwicklungsflusses anzubieten. Auf diese Aufgaben hin ist das impulsive Potential von Design zu konzipieren.