3.2.1 Somatische Tendenz ästhetischer Erfahrung und sensitives Potential von Design

Die somatische Tendenz erzeugt den körperbezogenen Erfahrungsbereich. In die zugehörige ästhetische Erfahrung können alle körperlichen Empfindung von der Nahrungsaufnahme und -verdauung, den Sinnesorganen, dem Bewegungsgefühl usw. bis zu Schmerz oder Lust einfließen. Zwar bildet sich im Lauf einer normalen Ontogenese aufgrund der genetischen Anlagen ein elementares Körperschema aus, doch damit dieses aufrechterhalten und ständig korrigiert werden kann, benötigt der Körper sensomotorische Rückmeldungen, durch die er immer in der Lage ist zu unterscheiden, ob beispielsweise der eigene Finger Druck auf eine Oberfläche ausübt oder ob diese gegen den Finger drückt. Die Registrierung eines körperlichen Feedbacks ist für das subjektive Wirklichkeitsempfinden entscheidend.

Das meist unbewusst bleibende Körperschema fungiert als sicheres Unterscheidungsinstrument zwischen Innen- und Außenwelt und ist nicht mit dem sozial beeinflussten Körperbild zu verwechseln. So fühlen sich korpulente Menschen häufig innerlich warm und beschwingt, locker und leicht beweglich. Ihr subliminal konstruiertes Körperschema kontrastiert mit dem sozial konstruierten Körperbild, das dicke Menschen als träge und fad darstellt. Zum Glück orientieren sich viele Menschen stärker am Selbstgefühl ihres Körpers als an sozialen Vorgaben und durchbrechen dadurch Vorurteile. Zur Bejahung des eigenen inneren Körperschemas gehört in Konfliktfällen ein starkes Selbstwertgefühl. Kann dieses dem bestehenden oder nur vermeintlich angenommenen Druck des sozialen Körperbildes nicht standhalten, treten Ess- oder Haltungsstörungen auf und der eigene Körper wird vom organischen Medium zur kreativen Entfaltung und ästhetischem Erleben (vgl. Kapitel 5) zunehmend zum entseelten, kontextuellen Medium für soziale, situative Interaktion. Während Menschen, die professionell mit ihrem Körper als Medium arbeiten wie Models, Schauspieler, Artisten usw. durch Training lernen, mit dem Unterschied zwischen ihrem innerlichen Körperschema und dem nach außen vermittelten Körperbild umzugehen, fehlt Menschen mit gestörtem Körperschema diese Unterscheidungsfähigkeit ebenso wie die Fähigkeit, den Körper in seinem Sosein, seiner ureigensten ästhetischen Qualität zu empfinden.

Die Binsenweisheit, dass selbst ein willensstarker Geist oft vor dem schwachen Fleisch kapituliert, verdeutlicht das Durchsetzungsvermögen der subliminal gesteuerten Eigendynamik der somatischen Tendenz gegenüber bewusster Willensanstrengung oder sozialer Manipulation. Im Wissen um die Wechselwirkungen von Geist und Körper und um ihre Untrennbarkeit sollte der somatischen Tendenz und ihren in das Bewusstsein dringenden ästhetischen Qualitäten mehr Aufmerksamkeit zukommen. Auf das individuelle Körperempfinden eingehendes, sensitive Aspekte besonders berücksichtigendes Design könnte mit dazu beitragen, dass Menschen sich in ihrem Körper wohl fühlen, selbstbewusst ihr Körperschema annehmen und sich nicht lebenslang von einseitigen, unerreichbaren Schönheitsidealen einschnüren lassen. Das heißt, dass neben der kommunikativen Funktion als ein ästhetischer Aspekt des Modedesigns auch die sensitive Funktion als Beitrag zur Qualität der körperlichen ästhetischen Erfahrung stärker durch Design eingebracht werden sollte.

Heutiger Komfort erleichtert es, jederzeit körperliche Anspannungen sofort zu lösen oder sie zum Vergnügen zu erzeugen. Trotzdem bleibt die Frage zu entscheiden, welche Angebote dem eigenen Körper guttun. Diese Entscheidungsfähigkeit spricht Paul Virilio in einem Essay (vgl. Virilio, 1996) ab. Er charakterisiert den heutigen Menschen als überreizt und mit der Wertung und Selektion der ihn umgebenden Reizangebote überfordert. Im Gegensatz dazu ist eine zunehmende Suche nach ästhetischen Qualitäten des Körpererlebens zu beobachten. Zunächst unbemerkt von der intellektuellen Reflexion nahm beispielsweise das Interesse an aktivem Bodybuilding in den letzten Jahrzehnten stark zu. Vordergründig ist die Präsentation des Körpers das Ziel. Um dies zu erreichen ist die genaue Kenntnis des Körpers unverzichtbar. Zeichen von Anspannung sind richtig zu deuten und um den Körper gezielt zu formen ist es erforderlich, die gesamte Lebensweise umstellen. Auch in alltäglichen Erfahrungsbereichen erfährt der Körperkult einen bereits langanhaltenden Boom. Menschen spüren, dass sie mit der Missachtung körperlicher Existenzbedingungen wie gesunder Luft und Nahrung, Sexualität, Schmerzen, Alterungsprozesse zugunsten bewusster, intellektueller Zielsetzungen, einen wichtigen Teil ihres Selbst verlieren und versuchen die somatische Tendenz wieder stärker in ein ganzheitliches Selbstverständnis einzubeziehen.

Im Zuge der Moderne waren auch die Designer von der zivilisatorischen Entwicklung zum Geistigen unter Verabschiedung des Körperlichen, bzw. des Materiellen überzeugt. Eine Fotoserie von Bauhäuslern zur Illustration der Entwicklung des Stuhles zeigt nach dem Freischwinger Marcel Breuers am Ende die Vision einer Luftsäule als entmaterialisiertes Design. Die von Japan ausgehende Miniaturisierung und technische Optimierung von Geräten gipfelte in den 80er Jahren in Produkten, deren zierliche Tastaturen kaum mehr zu bedienen waren und die Firma Siemens präsentierte auf Flächen reduzierte Designstudien zu Kommunikationsgeräten von Tönis Käo (in: Design heute, 1988). Durch solche Entwürfe wurde zum einen das Bewusstsein um die Wichtigkeit benutzungsfreundlicher Schnittstellen im Design geweckt und zum anderen, als ein Gegentrend zum Immateriellen, die Körperlichkeit neu entdeckt. Die Firma Alessi brachte 1996 eine Serie von Haushaltsgeräten auf dem Markt, welche durch ihre Voluminösität die haptische Sensibilität anspricht. Dies sind Anknüpfungspunkte für sensitives, auf die somatische Tendenz abgestimmtes Design.