Die introvertierte Tendenz zieht das bewusste Empfinden zu einer inneren Tiefe, der Seele. In der Versunkenheit, dem innerlichen Kreisen um ein Thema, das die introvertierte Tendenz in Gang hält, macht das Bewusstsein um äußere Rahmenbedingungen wie Situation, Raum und Zeit dem innerlichen Erleben von Erinnerungen, momentanen Empfindungen, Vorstellungen und Phantasien Platz. Ob angenehme, aufwühlende, schwierige Erlebnisse, sie alle können die introvertierte Tendenz aktivieren. Eine passende ästhetische Erfahrung für diese nach innen gerichtete Bewegtheit lässt sich mit der Formulierung: » und Maria hörte diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen«, aus der Weihnachtsgeschichte annäherungsweise ebenso veranschaulichen wie mit Auguste Rodins (1840-1917) Skulptur »Der Denker« von 1880 oder dem 1514 entstandenen Kupferstich »Melancholie« von Albrecht Dürer (1471-1528). Die entrückte Aktivität der introvertierten Tendenz im Wachzustand lässt sich mit dem Träumen im Schlaf vergleichen. Ähnlich wie im Traum, dessen Funktion je nach Theorie darin gesehen wird, das tagsüber Erlebte nach Müll oder Verwertbarem zu sortieren oder als Quelle für Erkenntnis Lösungsansätze für Probleme zu generieren, konzentriert die introvertierte Tendenz alle Kräfte auf das innerliche Erleben von Motivation, Kognition und Emotion. Wie Versuche beweisen, macht Schlafentzug psychisch krank, weil keine Möglichkeit zum Träumen besteht. Vergleichsmessungen zur Gehirnaktivität und Beobachtungen der Augenbewegungen von Schläfern, die glaubten nicht zu träumen und solchen, die sich an ihre Träume erinnern konnten, belegen, dass es bei beiden Gruppen Traumphasen gibt. Entsprechend ist zu vermuten, dass Menschen je nach ihrer charakterlichen Eigenart und den Lebensumständen mehr oder weniger häufig auch tagsüber Phasen durchleben, in denen die introvertierte Tendenz gegenüber anderen Tendenzen Vorrang gewinnt. Differenzierter als die generelle Anklage der Reizüberflutung verdeutlicht die Annahme einer subliminal eingeleiteten introvertierten Tendenz die Notwendigkeit, sich je nach Verfassung öfters aus dem allgemeinen Treiben zurückzuziehen, die aufgefangenen Reize zu sortieren, eine Pause einzulegen, sich zu besinnen und sich selbst und den Sinn des eigenen Tuns wiederzufinden.
Bei einer Umfrage zur treffendsten Bezeichnung der Gesellschaft gaben sechzig Prozent der Befragten den Begriff Leistungsgesellschaft an. Unklar bleibt, ob die Befragten damit Positives oder Negatives konnotierten. Der introvertierten Tendenz in ausreichendem Umfang nachzugehen erbringt zumindest vordergründig gesehen keine direkt verwertbaren Leistungen, weshalb dafür zu selten Gelegenheit geboten wird.
Die seelische oder mentale Befindlichkeit ist eine grundlegende Einflussgröße für die Qualität der ästhetischen Erfahrung. Sie mag zwar hinsichtlich der Konzeption von auf soziokulturelle Wirkung angelegten Projekten eher vernachlässigbar sein, keinesfalls jedoch bei der Konzeption von Projekten, die das alltägliche Leben betreffen und durch wiederholte Interaktion im Nahfeld des einzelnen aufgenommen werden. Zu den alltäglichen Dingen, die das Leben begleiten, dem Sessel, der Kaffeetasse usw. wird mit der Zeit eine mentale Nähe aufgebaut. Es scheint so, als wären die Dinge vom Geist des Nutzers beseelt. Umgekehrt trägt jeder diejenigen Dinge zusammen, von deren ästhetischer Erscheinungsweise er sich angesprochen fühlt. Empfindungen werden auf Dinge projizierst, die dadurch ihrerseits beseelt erscheinen. Nahverhältnisse, in denen die Dinge als Impulse für eine ästhetische Berührung der eigenen Seele angenommen werden, entstehen. Sie bilden die Grundlage für Vertrautheit und verantwortliche Behutsamkeit im Umgang mit dem Lebenskontext. Daher ist das Entstehen mentaler Nähe im Mensch-Objekt-Bezug durch das animative Potential von Design zu fördern.