Selbstreflexion > Zum Hauptkriterium des »bewussten Selbstgefühls« bezüglich der empathiven Qualität

Während der empathiven Erfahrungsbewertung tritt die momentane Gegebenheitsweise der Erfahrungsinhalte zugunsten der Reflexion des inneren Zustands, der mit ihnen verbunden ist, in den Hintergrund. Das Hauptkriterium des bewussten Selbstgefühls bezieht sich auf das subjektive, innerliche Selbst. Zwei wesentliche Kriterien bestimmen das Selbstgefühl. Erstens wird mit ihm die Subjektivität, die Einmaligkeit und die Privatheit von Erfahrungen verbunden. Zweitens gehört zum Selbstgefühl immer die persönliche Perspektivität. Beide Kriterien sind durch wissenschaftliche oder philosophische Ansätze, die um die Formulierung objektiv nachprüfbarer und allgemein verwertbarer Aussagen bemüht sind, schwer zu erfassen. Die Privatheit von Gefühlen oder ästhetischen Erfahrungen wird deshalb oft abgestritten oder als unwichtig erachtet. Im Bemühen, das typisch Menschliche zu beobachten und zu beschreiben, verlieren Wissenschaft und Philosophie den konkreten Menschen aus dem Blick.

Für das Selbstgefühl jedes Menschen gibt es neben den biologisch bedingten auch auf den soziokulturellen Kontext bezogene, verallgemeinerbare Einflussgrößen. Dies sind alterstypische Entwicklungsphasen, Krankheit, Partnerwahl, soziale Anerkennung usw., die im persönlichen Erleben gefühlsmäßig verarbeitet werden müssen. Psychotherapeutische Ansätze können hierfür insbesondere in zwischenmenschlichen Problemsituationen einen unterstützenden Rahmen bieten. Die Reflexion des Selbstgefühls ist jedoch nicht nur eine Komponente der Problembewältigung, sondern gehört zu einer bewussten Lebensführung und kann auch alltägliche Situationen zum Anlass nehmen. Durch Veränderungen und Wechselwirkungen der Beziehung zum eigenen Selbstkonzept, zum Körper, zu anderen Menschen und zur Lebensumgebung wandelt sich das Selbstgefühl ständig. Die Qualität des Selbstseins begleitet mehr oder weniger intensiv jede innerliche Reflexion. Sie ist aber nur schwer für andere oder im eigenen Denken in Worte zu fassen oder durch nonverbale ästhetische Mittel auszudrücken. Wenn es nicht gelingt, sich wenigstens ab und zu bewusst dem Fühlen der Empfindungsqualität des eigenen Selbst hinzugeben, entstehen innere Leere, Selbstentfremdung und Langeweile. Das Leben scheint sinnlos dahin zu gleiten (vgl. Hülsemann, 1996).

Mit Thomas Metzinger ist bezüglich der Frage nach der Bedeutung von Selbstgefühlen, die den Zustand des inneren Selbst reflektieren, deren bestehender Gewissheitscharakter und deren fehlender Wissenscharakter festzustellen (vgl. Metzinger, 1993 u. 1996). Von Selbstgefühlen als qualitative Selbstreflexion ist kein verwertbares Wissen abzuleiten, nur das sichere Gefühl, ein handelndes, verantwortliches Selbst zu sein. Wenn diese empathive Qualität der Selbstgewissheit fehlt, wird ein Mensch unsicher in seinen Gefühlen, der Verantwortung für sein Verhalten zu anderen Menschen und zu seiner Umwelt. Deshalb ist es sinnvoll, die evokative Aktualität von Design als Anregung für das Zustandekommen von bewussten Selbstgefühlen einzusetzen.

Beispiel für die evokative Aktualität von Design

Im Strafvollzug, beim Militär, im Kloster oder in Sekten benutzen Maßnahmen zur Störung des Selbstgefühls wie strenge Vorschriften für Frisur und Kleidung, strikte Zeiteinteilung, Reduktion persönlicher Utensilien, knapper Lebensraum, Beschneidung von Kommunikations- und Aktivitätsmöglichkeiten, Überforderung des Leistungsvermögens usw., stehen Möglichkeiten zur Förderung eines positiv erlebbaren, bewussten Selbstgefühls entgegen. Körperliches und geistiges Tätigsein und Wohlbefinden, individuell angepasste Kleidung, Möbel und Wohnräume, flexible Arbeitszeiten, Achtung vor der individuellen Lebensgeschichte usw., wären dann Richtlinien für die evokative Aktualität von Design im Alltag.

In einer demokratischen Kultur, die verschiedene Lebensweisen und Selbstgefühle toleriert und in der die Menschen selbstbewusst die Freiräume zur Lebensgestaltung nutzen wollen, können sich Designer nur selten auf ein elementares, aus dem vereinheitlichenden Ansatz der Anthropologie abgeleiteten gestalterisches Repertoire beziehen, indem sie sich zum Beispiel auf die »wesenhafte« Gefühle evozierende Kraft einer Farbe, einer Form oder eines Materials berufen. Das heißt nicht, dass es unnötig oder unmöglich wäre ein Repertoire ästhetischer Mittel anzulegen, doch eine allzu schablonenhafte Anwendung von Zuordnungen zwischen Gestaltungsmitteln und Gefühlen, wie runde Formen und Erotik oder Kindchenschema, lässt die Erforschung ästhetischer Mittel im Design stagnieren.

Wenn die Erlebnisvielfalt und der das Selbstgefühl stärkende Gewissheitscharakter von Sinneswahrnehmungen akzeptiert wird, sind wissenschaftliche Forschungen zu Farben, Oberflächen, Haptik, Duft- und Geschmacksstoffen, Geräuschen usw., die meist von Herstellerfirmen oder naturwissenschaftlichen Hochschulinstituten betrieben werden, stärker in das disziplinäre Wissen einzubeziehen und durch Forschungen zur Wirkung von Formen, Materialien, Proportionen usw. zu ergänzen. Obwohl diesbezüglich häufig beispielsweise von Duft- oder Sound-Design die Rede ist, sind nur wenige Designer in solche Forschungen mit einbezogen. Hier wäre eine stärkere Kooperation bereits in der Ausbildung anzustreben, denn die Computertechnik erleichtert es, nuancenreiche Effekte bei Gestaltungsmitteln zu erzielen, die der sinnlichen Fülle und Vielfalt von Naturerscheinungen und menschlicher Erlebnisfähigkeit entsprechen und dadurch gezielter auf individuelle Wünsche einzugehen.