Selbstreflexion > Zum Hauptkriterium der »reflektierten Sinnlichkeit« bezüglich der perzeptiven Qualität

Wenn die Erfahrung als perzeptive Qualität bewertet wird, ist das bewusste Selbst in seiner Gegebenheitsweise Thema ohne jegliche Interpretation oder Wertung des seelischen Zustands. Unter diesem Blickwinkel ist das Selbst aber allein durch das Bewusstsein von sinnlichem Reizmaterial gegeben. Das Hauptkriterium der reflektierten Sinnlichkeit bewertet daher ausschließlich das reflektierende, vergnügliche Spiel mit dem die bewusste Selbsterfahrung konstituierenden, präsenten Sinnesmaterial. Fragen der Art, welche Bedeutung diese Sinnesreize haben, ob sie von natürlichen oder künstlichen, von kostbaren oder banalen Objekten ausgehen oder welche Gefühle, wie der Wunsch, ein Objekt zu besitzen, oder eine angenehme Empfindung sie sonst hervorrufen, bleiben ausgeklammert. Dadurch unterscheidet sich die reflektierte Sinnlichkeit vom ungebremsten, lustvollen Genuss Durch die distanzierte, subjektive Reflexion des ästhetischen Reizmaterials kann dieses in seinem Sosein bestehen bleiben.

»Indem nämlich das Subjekt im Geschmacksurteil sich scheinbar nur auf sich selbst konzentriert und ganz vom Gegenstand absieht, ihn weder dem Begriff noch dem Begehren unterwirft, verzichtet es darauf, sich den Gegenstand zu eigen zu machen und lässt ihm gerade dadurch zum ersten Mal die Möglichkeit in seinem Selbstsein, seiner besonderen und irreduziblen Wirklichkeit, die sich wie die praktische Vernunft selbst ihr Gesetz zu geben scheint, hervorzutreten.« (Hauskeller, 1994, S. 218)

Die Konzentration auf den ästhetischen Eigenwert wird in der Ästhetik anstelle von Sinnlichkeit auch mit Kontemplation bezeichnet. Meist steht Kontemplation für die anschauende Versenkung, mit dem Ziel, dem Wahrhaftigen, Göttlichen, näher zu sein. So auch in der Konzeption von Plotin, der die Kontemplation als höchste Stufe ästhetischer Erfahrung deutet. Diese Assoziation zum Sakralen bricht Martin Seel auf, indem er mit Kontemplation ganz profan einen, von anderen wichtigen Aspekten des Ästhetischen benennt. Seel definiert die ästhetische Erfahrung unter dem kontemplativen Aspekt durch die Scheidung der Sinne vom Sinn. Er belegt exemplarisch, dass sie sich besonders gut mittels der Anschauung von Natürlichem entwickelt (vgl. Seel, 1996).

Wie schwierig es ist, künstlerische Objekte zu gestalten, die zur gezielten, rein kontemplativen Rezeption führen, zeigen Werke, die der konkreten Kunst zuzurechnen sind wie Arbeiten von Josef Albers u. a. Diese Werke dienen weder einem praktischen Zweck noch sprechen sie das Gefühl oder psychologische Deutungen an, und doch entwickelt sich die kontemplative Rezeption, das reine Spiel der Sinnlichkeit, nur eingeschränkt. Mit ein Grund hierfür ist die Reduktion auf elementare Gestaltungsmittel und geometrische Anordnungen. Kant bemerkt hierzu:

»Alles Steif-Regelmäßige (was der mathematischen Regelmäßigkeit nahe kommt) hat das Geschmackswidrige an sich: dass es keine lange Unterhaltung mit der Betrachtung desselben gewährt, sondern, sofern es nicht ausdrücklich die Erkenntnis oder einen bestimmten praktischen Zweck zur Absicht hat, lange Weile macht.« (Kant, 1979, S. 163)

Es ist schwer, auf ein Minimum an Gestaltungsmitteln reduzierte und konzentrierte Objekte in ihrem reinen Eigenwert, dem syntaktischen Sosein, der reflektiven Sinnlichkeit zu entfalten, ohne an der Reflexion elementarer Bedingungen der Wahrnehmung wie dem Vergleich der Organisation der Gestaltelemente mit Gestaltgesetzen oder der Beziehung des Werks mit seinem räumlichen Kontext haften zu bleiben oder die ästhetische Reflexion zu verlassen und in die intellektuelle Reflexion, die rein theoretische Kontemplation, überzugleiten. Sinnliche Kontemplation oder reflektierte Sinnlichkeit kombiniert isolierte Reize spielerisch miteinander und ist als Dynamik vom Vielgliedrigen, Ungeordneten zum Einfachen, Harmonischen oder umgekehrt entwickelbar.

Die Ausrichtung von Design auf die formative Aktualität sollte eine Balance zwischen Sinnlichkeit und Reflexion herstellen, um nicht durch zu hohe Ordnung jede Sinnlichkeit auszuschalten oder umgekehrt durch zu viele ästhetische Reize die Reflektierbarkeit nicht lahmzulegen.

Beispiel für die formative Aktualität von Design

Der städtische Raum sollte weder zu steril gestaltet sein, noch einer chaotischen Eigendynamik überlassen werden. Plakatierungen sind eine Möglichkeit, Farbflecken zu arrangieren, welche die Sinne anregen. Das großflächige Rot eines Plakats korrespondiert mit der groben Struktur eines Stahlträgers, vorbeigehende Menschen erzeugen mit ihrer farbigen Kleidung wechselnde Kompositionen. Auch typografische Zeichen werden im Vorübergehen nicht immer gelesen, sondern einfach als anregende Strukturen wahrgenommen, die in architektonischen Elementen formal wieder auftauchen. Zufällige, zusammenhanglose Geräusche wie vorbei brausende Autos, ein ferner Presselufthammer, das Gespräch von Passanten oder das Rauschen der Wasserleitungen organisieren sich im Bewusstsein zu einer Melodie. Es kann auch zu einer Vermischung von den Reizen kommen, die momentan wahrgenommen werden, und solchen, die aus der Erinnerung auftauchen.

Oft ist es auf Reisen in fremden Städten faszinierend, nur die Geräuschkulisse aufzunehmen. Akustische Reize, die in der bekannten Umgebung gar nicht mehr gehört oder unmittelbar der bekannten Bedeutung zugeordnet werden, gewinnen durch ihre Fremdartigkeit eine neue, bewusst erfahrbare Sinnesqualität. Von daher erklärt sich der Erfolg von Musikstücken von Ethno-Pop bis zu Gregorianischem Gesang, die ohne Bezug auf ihre Entstehungsgeschichte oder religiöse Überzeugungen, also ungeachtet ihres Inhalts, als formative Kompositionen produziert und rezipiert werden.

Im Restaurant geht es oft weniger um die Nahrungsaufnahme als vielmehr um das Vergnügen am Schmecken und Riechen der verschiedenen Speisen und Getränke. Viele Nahrungsmittel werden nicht deshalb gegessen oder getrunken, weil sie besonders angenehm schmecken, sondern weil sie einen speziellen Geschmack oder Geruch haben, der die gustatorische und olfaktorische Sinnlichkeit bereichert.

Die Unterscheidung zwischen dem gierig schlemmenden Gourmand und dem genussvoll speisenden Gourmet eignet sich dazu, die Nähe der selbstzweckhaften ästhetischen Einstellung zu Dekadenz und Egoismus aufzuzeigen. Die der perzeptiven Qualität entsprechende Selbstreflexion unter dem Hauptkriterium der reflektierten Sinnlichkeit kann auch als einzige Art des Selbstbezugs kultiviert werden. Diese Reduktion des Selbstkonzepts vollziehen wenige Menschen mit. Deshalb eignet sie sich als Mittel zur sozialen Abgrenzung. Es kommt vor, dass die Reduktion zur Basis einer gesamten Lebensanschauung wird, wobei offen bleiben kann, ob deren Verkünder sie nur nach außen zur Schau stellt oder von ihr überzeugt ist. Dann entsteht der Typ des elitär und weltfremd wirkenden Ästheten, der seine auf die reflektierte Sinnlichkeit reduzierte Weltsicht als einzig richtige kultiviert.