Aufgrund des Modells einer selbstorganisierenden, rückgekoppelten Organisationsdynamik von Prozessen, die den drei differenzierten Dimensionen zuzuordnen sind, ist die mit der gefühlsbezogenen Komponente verbundene Spezifik der ästhetischen Erfahrung nicht als ein präzise festlegbarer Bewusstseinszustand zu beschreiben, sondern als eine integrative Kulmination der Gesamterfahrung, die verschiedenste bewusste Organisationsqualitäten hervorbringen kann. Diese sind durch vielfältige, subjektiv ausgeprägte Gefühle erlebbar, deren identisches Nachfühlen unmöglich ist. Zielsetzung der Analyse von qualitativen Akzentuierungen der gefühlsbezogenen Komponente von Erfahrung ist es, zu einem besseren Verständnis für die Gefühlswelt anderer beizutragen. Diesbezüglich lässt der Versuch, alle diese Gefühlsqualitäten mittels ausdifferenzierten Bezeichnungen zu systematisieren, nach den bereits vorliegenden Ansätzen (vgl. Punkt 2.1) keinen Zugewinn erwarten. Zwischen vorab theoretisch ausgewählten Begrifflichkeiten entstehen im wirklichen Erleben immer weitere Gefühlsdifferenzierungen, deren Feinheiten durch das abstrakte Raster der Bezeichnungen fallen. Daher werden typische Qualitäten zur Akzentuierung der bewussten Erfahrung hervor gestellt, deren analytische Präzisierung in Beziehung auf einen konkreten Einzelfall erfolgt.
Zur gefühlsbezogenen Komponente von Erfahrung gehört das Bewusstsein um deren gegenwärtigen Vollzug sowie um deren Ende. Gegenüber der umfassenden Erfahrung hebt sich die ästhetische Erfahrung dadurch in Form eines besonderen Zeitbewusstseins ab. Dieses ist in drei Bereiche gliederbar, auf deren Grundlage sich drei typische Akzentuierungen der bewussten Organisationsqualitäten ableiten lassen.
Das Zeitbewusstsein ist als subjektives Empfinden der Zeit von der physikalischen Definition oder von soziokulturellen Einteilungen der Zeit zu unterscheiden. Die Überlegungen von Aurelius Augustinus (354-430) zum Zeitbewusstsein im 11. Buch seiner Bekenntnisse (Confessiones) von 397 gelten als früheste Zeugnisse für eine differenzierte Analyse der Zeit. Unabhängig von der sonstigen philosophischen Position des Augustinus ist hervorzuheben, dass er als erster das subjektive Zeitbewusstsein thematisiert. Er unterscheidet drei zeitliche Aspekte des gegenwärtigen Erlebens. Es kann sich erstens auf die aktuelle Gegenwart beziehen, zweitens auf die Gegenwart von Vergangenem und drittens auf die Gegenwart von Zukünftigem.
Mit der Methode der Phänomenologie werden diese Ausrichtungen des Gegenwarterlebens zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts genauer untersucht. Die unterschiedliche Wertung der drei Aspekte von Gegenwart ist exemplarisch an vier philosophischen Ansätzen zu verdeutlichen. Henri Bergson (18591941) hebt den Aspekt des Vergangenen hervor und betont, dass in jedem Moment des Daseins sämtliche zuvor erlebten Erfahrungen mit vergegenwärtigt sind. Für ihn ist der Begriff der Dauer (durée) für das menschliche Zeitempfinden zentral. Husserl bemüht sich dagegen um die strikte Trennung des gegenwärtigen Erlebens von Vergangenem oder Zukünftigen, um die wesentliche Gegebenheitsweise von Präsenz auszufiltern. Der Aspekt des Zukünftigen im gegenwärtigen Erleben ist für Heideggers zentralen Begriff der Sorge und für Blochs bestimmendes Prinzip der Hoffnung am wichtigsten (vgl. Kapitel 1.1.4).
Um die Vielfalt subjektiven Erlebens von ästhetischer Erfahrung ansatzweise zu erfassen, ist keinem der drei zeitlichen Gegenwartsaspekte der Vorzug zu geben. Deshalb werden im Folgenden entsprechend diesen drei zeitlichen Aspekten gegenwärtiger Erfahrung drei bewusste Organisationsqualitäten zur typischen Akzentuierung der gefühlsbezogenen Komponente von Erfahrung und als spezifische Erlebensformen der ästhetischen Erfahrung unterschieden.
Eine Qualität gegenwärtiger ästhetischer Erfahrung konzentriert sich auf die sinnlich gegebene Beschaffenheit eines Erfahrungsgegenstands. Sie wird als perzeptive Qualität gekennzeichnet. Für eine weitere Qualität ästhetischer Erfahrung ist der Aspekt der Vergangenheit in der Gegenwart durch innerliche Erfahrungsfülle und Intensität wesentlich. In der Hinwendung zu gegenwärtigen Erfahrungsanlässen wird die Passung zur persönlichen Erfahrungsgeschichte angestrebt. Diese Akzentuierung ästhetischer Erfahrung wird als empathive Qualität definiert. Hinsichtlich der dritten Qualität der ästhetischen Erfahrung bildet die Zukunft in der Gegenwart den entscheidenden Akzent, um den herum sich die Erfahrung organisiert. Dann stellt jeder gegenwärtige Erfahrungsanlass nur einen vorläufigen Orientierungspunkt auf dem vorgestellten, möglichen Erfahrungsweg dar. Die entsprechende Akzentuierung der ästhetischen Erfahrung ist als imaginative Qualität charakterisierbar. Somit sind drei bewusste Organisationsqualitäten typisch für die verschiedenen Gegenwartsakzente der ästhetischen Erfahrung. In der Konzentration auf die perzeptive Qualität scheint die Zeit still zu stehen. Unter dem Organisationsschwerpunkt der empathiven Qualität erscheint die Zeit gedehnt und das Erleben intensiver. Bezüglich der Organisation von Ästhetischem unter der imaginativen Qualität wird Zeit nicht in Form einer Intensitätssteigerung und Dehnung des Erfahrungskontinuums, sondern als sprunghafter Rhythmus erlebt. In der gegenwärtigen zukunftsbezogenen Orientierung öffnet sich innerhalb der Erfahrung ein neuer Weg, der dazu reizt, ihn weiter zu erforschen.
Die perzeptive Qualität kommt Kants Definition der Besonderheit des Ästhetischen durch die innere Distanz zu dem Gegenstand der Erfahrung sowie dessen Zweckfreiheit am nächsten. Die ästhetische Reflexion der perzeptiven Qualität sucht nicht nach dem Grund oder Zweck eines Erfahrungsgegenstands, sondern analysiert diesen in seinem Sosein, seinem Eigenwert. Deshalb ist mit der Fokussierung der ästhetischen Erfahrung auf die perzeptive Qualität beispielsweise auch die Gestaltung und Rezeption von abscheuerregenden Themen möglich wie das professionelle Design im Genre von Science Fiction, Fantasy und Horror oder auch die Benetton-Kampagne mit ihren letztlich doch ästhetisch prägnant arrangierten Sujets belegen. Auch die beiden anderen bewussten Organisationsqualitäten markieren eine ästhetische Erfahrung im Sinne der Reflexionsfähigkeit und der momentanen, praktischen Zweckfreiheit. Die empathive Qualität als eine Akzentuierung der bewussten Organisation von ästhetischer Erfahrung ist nicht mit dem Besitzenwollen des Gegenstands verbunden. Sie lässt sich vielmehr als Anteilnahme und gefühlvolles, weniger intellektuelles Verständnis charakterisieren, das sich im Prinzip auch unter Absehung von moralischen Argumenten entwickeln kann. Hinsichtlich der imaginativen Qualität bewegt immer schon der vorgestellte, mögliche nächste Schritt der Erfahrung das ästhetische Empfinden.