Nach Herleitung der Grundeinteilung, die auf dem Modell einer Korrespondenz von Design und ästhetischer Erfahrung in Relation zu den stabilisierenden Orientierungen von Erfahrung basiert, ist im Folgenden die weitere Vorgehensweise darzulegen (vgl. Abbildung 3), um differenzierte Richtlinien für Design in Korrespondenz zur Vielfalt ästhetischer Erfahrung zu entwickeln. Diese sind nicht als feststehende Sezieranleitung ein für allemal instrumentalisierbar, sondern eher graduell einstellbaren Filtern vergleichbar, die von Fall zu Fall auszuwählen und einzujustieren sind. Da Design nicht als Machtinstrument zur neutralisierenden Angleichung der vielfältigen Lebensperspektiven genutzt werden soll, müssen Designer ästhetische Ausdrucksformen finden, die sich zunehmend aus den Lebenswirklichkeiten und den dadurch definierten ästhetischen Erfahrungsqualitäten von Individuen herleiten und nicht aus einem standardisierten, puristischen, disziplinär tradierten Formenrepertoire, dessen Beherrschung vielen Designern als Legitimation dient.
Ästhetische Erfahrung als Teilprozess der wirklichkeitsbildenen Basis von Erfahrung verfolgt keine Erkenntniszwecke und dient keinem Nutzen, aber sie stellt in Beziehung auf das eigene Selbst, auf die Mitmenschen und die Welt (vgl. Kapitel 2) Erlebnismomente bereit, welche unbezweifelbar die Lebensfreude vertiefen. Zudem lassen sie qualitative Aspekte des Lebens vor jeder moralischen oder ethischen Argumentation spürbar werden, da mit der Flüchtigkeit einer ästhetischen Erfahrung die Vergänglichkeit des Lebens bewusst wird. In der ästhetischen Erfahrung werden weder das Selbst noch die Mitmenschen oder die Welt instrumentalisiert. Deshalb verstellen weder Egoismus noch Unterdrückungsgelüste, Machtdemonstrationen oder Willkür das Bewusstsein Vielmehr wächst, indem das Leben genügend Zeit für ästhetische Erfahrungen bietet, aus dem eingelösten Vertrauen auf die Möglichkeit von Lebensqualität Verständnis für die Lebensfreude anderer Menschen, die Achtung vor dem Leben an sich und Hoffnung auf die Fortsetzung von Leben über das Ende der eigenen Existenz hinaus.
Der Begriff der Lebensqualität oder des guten Lebens wird in den folgenden Analysen zwar selten benannt, durchzieht aber letztlich alle Überlegungen. Die vergängliche Sequenz einer ästhetischen Erfahrung mit der zugehörigen besonderen Qualität des Erlebens geht als wertvoller Moment in das individuelle Leben ein. Er kann zu einem späteren Zeitpunkt, in dem die aktuelle Lebenssituation wenig Möglichkeiten zur Entfaltung von ästhetischer Erfahrung anbietet, aus der Erinnerung lebendig werden und ein positives Lebensgefühl wach halten. Durch wiederholtes Erleben verschiedenster ästhetischer Erfahrungsqualitäten kann sich, ungeachtet negativer Ereignisse, eine dauerhafte, positive Einschätzung von Lebensqualität erhalten.
So wichtig die subjektive Konkretisierung von Lebensqualität ist, darf doch nicht übersehen werden, dass ihr Potential in Abhängigkeit zum sozialen Gefüge steht. Gerade in der heutigen, westlichen Welt, in der das leibliche Wohl der meisten Menschen gesichert ist und in der durch die zunehmende Automatisierung immer mehr Freizeit entsteht, sind viele Menschen unfähig, ästhetische Erfahrungen im definierten Sinne zu entfalten, denn nur wer etwas Nützliches leistet, findet soziale Anerkennung. Die Verinnerlichung dieses Diktums der Leistungsgesellschaft erzeugt bei einem Teil der Menschen, die sich ausgeschlossen fühlen, die Grundstimmung, sich selbst als nutzlos zu betrachten, und verschließt den Erfahrungsraum für die Chance der ästhetischen Erfahrung. Ein weiterer großer Anteil der Menschen hetzt irgendwelchen Erlebnisangeboten nach, die gleichsam abgearbeitet werden, ohne als ästhetische Erfahrung, die den bisherigen Erfahrungsschatz vertieft und bereichert, zur Entfaltung zu gelangen.
Eine zu weite Definition von Lebensqualität ignoriert faktische Unterschiede, denn die Aussichten eines Straßenkindes auf ein qualitativ erfülltes Leben sind wenig erfolgversprechend. Eine zu enge Definition von Lebensqualität ist gefährlich, denn sie verleitet dazu, Menschen, deren Lebensverhältnisse dieser Norm nicht entsprechen, mit überheblichem Mitleid zu behandeln, doch ihr Leben insgeheim abzuwerten. Die Problematik des Begriffs der Lebensqualität, der erst seit circa dreißig Jahren populär ist, liegt genau darin, dass er zwar geprägt wurde, um die rein quantitativen Fortschritte der modernen Lebensumstände zu kritisieren und eine zeitgemäße Bezeichnung für den tradierten philosophischen Begriff des guten Lebens einzuführen, dann aber zunehmend nur noch anhand von statistischen Daten dargestellt wurde.
»Damit wird allerdings das Verständnis von Lebensqualität praktisch weitgehend mit der Suche nach einem Gesamtmaß des Lebensstandards verbunden. Wenn es auch im einzelnen sinnvoll sein kann, soziale Indikatoren zu erheben (als Teil einer Sozialstatistik etwa), so ist doch die Vorstellung problematisch, es könne über die Aggregation einer Liste rein quantitativer Größen ein (nicht-willkürliches) quantitatives Analogon des Bruttosozialprodukts gewonnen werden, das dann einen qualitativen Vergleich der Lebensqualität gesellschaftlicher Systeme ermöglicht.« (Mittelstraß Hrsg., EPWT 1996, Art. Lebensqualität)
Der beste Lebensstandard sichert nicht die Konkretisierung von Lebensqualität. Diese ist vielmehr anhand der Verfügbarkeit und Einlösung von solchen Angeboten, welche zur flexiblen, die Entscheidungsfreiheit der Individuen respektierenden und deren Lebensperspektiven entsprechenden Lebensgestaltung anregen, immer wieder aktuell zu bewerten. Auf die dargelegte Ausgangsthese und Zielsetzung dieser Untersuchungen bezogen, hat Design die Aufgabe, solche Angebote im Hinblick auf ihre positive Einbindbarkeit in die ästhetische Erfahrung zu gestalten.