[3.3.1.1]
Zum Kriterium der »Sensibilität«
bezüglich der somatischen Tendenz
Manche Menschen erwachen sehr leicht, wenn sich an ihrem Zustand etwas
ändert. Der Anlaß kann von außen kommen wie ein Geräusch oder ein kühler Luftzug
oder von innen wie ein Hungergefühl oder ein schlechter Traum. Auch im
Wachzustand nimmt der Körper durch seine Sensibilität dauernd das Bereitschaftspotential in
Anspruch und kann dadurch die Konzentrationsfähigkeit für bewußte Tätigkeiten
stören. Ob übersteigerte Sensibilität durch den situativen Kontext, der den
körperlichen Verhaltensdrang zu stark einschränkt, oder organische Reaktionen verursacht
ist, bleibt oft unklar. So kann die Hyperaktivität von Kindern als Kompensierung des
aufgezwungenen Stillsitzens in der Schule oder als Energieüberschuß durch
Überzuckerung des Organismus gedeutet werden. Die Ursache von chronischen Schmerzen
wird als gegen den eigenen Körper gerichtete Reaktion des Immunsystems interpretiert
oder auf schwierige Lebensumstände zurückgeführt.
Aus diesen Alltagsbeobachtungen ist bezüglich dem Kriterium hoher
Sensibilität als Bereitschaft zur somatischen Tendenz zu folgern, daß sich das Körperliche
während bewußt eingeschlagenen Motivationstendenzen in verschiedensten
Formen durchsetzt. In der speziellen genetischen Prägung der körperlichen
Konstitution manifestiert sich Individualität. Diese muß in das zwischenmenschliche
Zusammenleben integriert werden. Deshalb ist ein Großteil bewußter individueller und
sozialer Anstrengungen darauf gerichtet, die körperliche Sensibilität entsprechend den
jeweiligen kulturellen Konventionen zu regulieren (s.o. zu Freud und Elias). Diese im
öffentlichen Leben geforderte Körperkontrolle kann zur Abschottung gegenüber
jeglichen somatischen Reizen führen. Ein Niesreiz, ein Lachreiz oder das Gefühl, sich
strecken zu müssen, werden ebenso unterdrückt wie sexuelle Regungen.
Ein zweiter Grund für mangelnde Sensibilität bezüglich der somatischen
Tendenz resultiert aus der Diskrepanz zwischen registrierten Umweltreizen und der inneren
Kapazität, diese zu verarbeiten. Die persönlichen Reizschwelle wird dann zum
Schutz erhöht und matte Farben, leise Töne, feine Formen fallen durch das subliminale
Raster. Die Bereitschaft zur sensiblen Registrierung von unterschiedlichen Reizen auf
gleichen und verschiedenen Intensitätsniveaus ist die wichtigste Voraussetzung für die
Untersuchung aller weiteren, die somatische Tendenz betreffenden ästhetischen
Kriterien. Deshalb sollte das sensitive Potential darauf angelegt sein, durch das Angebot
differenzierter Reizniveaus, die Fähigkeit zur Sensibilität zu wecken, zu erhalten und auszubauen.
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