[3.3.2.1]
Zum Kriterium der »Neuheit«
bezüglich der explorativen Tendenz
Während hinsichtlich der introvertierten Tendenz das Bekannte die intuitive
Anknüpfung erleichtert, ist bezüglich der explorativen Tendenz die Neuheit das
Kriterium, mit dem ästhetisches Material den ersten Anschluß begünstigt. Nicht das
bewährte Alte, sondern das vielversprechende Neue wird gesucht. In der progressiven
Dynamik der explorativen Tendenz geraten viele Reize in das Blickfeld, die am Ende
nicht halten, was sie versprechen und es ist ein gewisser Energieverschleiß einzukalkulieren.
Für den einzelnen heißt
das, daß er für die Suche nach Neuem mehr
Energie aufwenden muß, als sich auf das Bekannte und die introvertierte
Tendenz zu konzentrieren. Jemand, der aufgrund der Erfahrungsqualität der Neuheit einer Kamera, einer
Skiausrüstung, eines Fahrrads, einer Software usw. einen ersten kognitiven Anschluß
herstellt, das Produkt kauft und sich damit in den Strudel von Folgeentwicklungen
begibt, die er ebenfalls erwerben muß, um das erste Produkt immer auf dem
neuesten Stand zu halten, kommt selten dazu, die Aktivierungsmöglichkeiten des Produkts
für sich sinnvoll zu entfalten. Eine Begleiterscheinung dieser einseitigen
Aufmerksamkeit für das Neue ist der Verschleiß ästhetischer
Mittel und ihrer potentiellen Erlebnisqualität. Sie werden nicht hinsichtlich ihrer sensitiven oder animativen Funktion
entfaltet, sondern bei nächster Gelegenheit durch eine neue Entdeckung ersetzt.
Immer das Neueste zu wissen oder um sich zu haben ist ein
psychisches Bestreben, das aus der explorative Tendenz resultiert. Indem die Jagd nach Neuen und die
Bevorzugung der explorativen Tendenz zur gesamtgesellschaftlichen Orientierung
erhoben wird, erfährt das Handeln des einzelnen eine zusätzliche Beschleunigung, die
sich in sozialen Systemen fortsetzt. In diesem Zusammenhang zeigt sich der Energie-
und Ressourcenverlust anhand von technischen Innovationen, für die man sich um ihrer
selbst Willen begeistert, ohne zu prüfen, ob sie sich im gewohnten Leben
bewähren können. Die Formierung von Design als Wissenschaft steht in diesem Kontext, der
die explorative Tendenz und das Neue hoch einschätzt und die somatische und
introvertierte Tendenz sowie das sensitive und das animative Design hauptsächlich in
ihrer, die Akzeptanz von impulsivem Design unterstützenden Funktion miteinbezieht.
So ist die Frage, was den nun eigentlich das Neue an dem Entwurf sei, bei
Diplompräsentationen obligatorisch, selbst wenn das Design durch explizite Bezugnahme auf
sensitive oder animative ästhetische Kriterien entstanden ist und Neuheit als solche
kein entscheidendes Gestaltungskriterium war.
Die negativen Kritikpunkte zum Kriterium der Neuheit ergeben sich aus
dessen Überbewertung und der Vermischung von Neuheit im Verhältnis zur individuellen
Erfahrung und zum gespeicherten Wissen sozialer Systeme. Wenn Neuheit ihren
Stellenwert als erste kognitive Anknüpfung in der von der explorativen Tendenz
getriebenen subjektiven Erfahrung erhält, dann relativiert sich ihrer Bedeutung, denn als
weitere ästhetische Kriterien folgen ihr die sinnvolle Entfaltbarkeit und die
Zuordnbarkeit. Das impulsive Potential von Design, das der explorativen Tendenz einen
Anschluß bieten will, sollte durch Neuheit auffallen und gleichzeitig darüber hinausweisen.
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