6.2 Kategorie der Perspektivität von Design in Korrespondenz
zur antizipierenden Verbesserung ästhetischer Erfahrung
Antizipierende Überlegungen dahingehend wie ästhetische Erfahrung und
Lebensqualität zu verbessern wären stehen traditionellerweise auch im Zentrum von
Theorien zur Gestaltung. Als eine der ältesten dieser Theorien, welche darauf angelegt
waren, allgemeingültige gestalterische Prinzipien hervorzubringen, kann die von
Vitruv um die Zeitwende in Rom formulierte Architekturlehre gelten. Gute Architektur
sollte den drei von ihm hervorgehobenen Kriterien Festigkeit, Brauchbarkeit und
Schönheit unter Einhaltung der richtigen Proportionen, und Berücksichtigung von
Schicklichkeit und Ökonomie genügen. Später entwickelten sich daraus die von
Leon Battista Alberti (1404-1474) betonten Kriterien Konstruktion, Verteilung und Dekoration
über die allgemeinen, klassischen Kriterien wahr, brauchbar, schön zu den
Kriterien der Moderne Struktur, Funktion und Form. Aber diese Kriterien antizipieren
eher eine einseitig optimierte Zielvorgabe, den Sollzustand einer idealen Architektur,
als daß sie die konkret gebaute Architektur analytisch fassen könnten. Dies gilt
analog für die Übertragung objektiver ästhetischer Prinzipien auf andere
Designdisziplinen. Design wurde an der HfG Ulm im Unterschied zum Bauhaus erstmals
wissenschaftlich thematisiert. Um sich von dem laienhaften Designverständnis, das Design mit
dekorativer Behübschung gleichsetzt abzugrenzen, sollte die Anerkennung der jungen
Disziplin mit einem möglichst den harten Kriterien von Wissenschaft genügenden
Wissensfundament gestärkt werden. Von dieser am klassischen
Wissenschaftsverständnis orientierten Verwissenschaftlichung war auch die Ästhetik betroffen. An
Forschungen von Max Bense anknüpfend entstanden viele Arbeiten zur Ästhetik, die bemüht
waren, nach wissenschaftlichen Kriterien objektive, meßbare Qualitäten
systematisch herauszufiltern und den Bereich subjektiver Interpretationen auszuschließen.
Dadurch wurden jedoch gerade diejenigen ästhetischen Aspekte aus der disziplinären
Forschung zur Ästhetik eleminiert, welche für das subjektive Empfinden der Qualität des
Wirklichkeitserlebens und der Lebenspraxis wesentlich sind. So fragte
Siegfried Maser, der viel zur Theoriebildung einer designorientierten Ästhetik in Benses Arbeitsgruppe
beitrug und sich für die Überwindung des klassischen Wissenschaftverständnisses
einsetzte, anläßlich der Rezension des Buches »Ästhetik, Konstruktion und Design
eine strukturale Ästhetik« von Rolf Garnich:
»Welchen Stellenwert haben formal-ästhetische Programme im gesamten Zielprogramm
eines Produkts? Wo finden Präzisierung und Mathematisierung ihre praktischen (oder
auch pragmatischen) Grenzen? Worin besteht ihr praktischer Sinn? Inwieweit kann eine
solche Theorie nicht nur einfach beschreibbare Strukturen, sondern bessere Produkte
hervorbringen?« (Maser, aus: form, Heft 74, 1976, in: form spezial 1, 1997, S. 136)
Die Konzentration auf objektive und die Geringschätzung subjektiver
ästhetischer Aspekte innerhalb dem nach dem zweiten
Weltkrieg aufkommenden disziplinären Designverständnis ist auch durch das politischen Bewußtsein vieler Designer zu
begründen. Sie wollten ihre Aktivitäten nicht länger darauf richten, die offen
gelassenen emotionalen Löcher in den Rahmenbedingungen für die Lebensgestaltung, welche
von anderen Wissensbereichen wie Wirtschaft, Technik und Politik festgelegt werden,
zu stopfen, sondern selbst stärker an positiven gesellschaftlichen
Veränderungsprozessen mitwirken. Hierdurch geriet der
Respekt vor dem banal scheinenden Besonderen, wie der spezifischen Lebensführung des einzelnen, zugunsten der Faszination am
strategisch machtvoll einsetzbaren Allgemeinen wie städteplanerischen Großprojekten,
aus dem Blick. Welche der antizipierten Veränderungen forciert werden sollten und
welche gestalterischen Mittel zu deren Förderung einzusetzen wären, ergab sich aus
intellektuellen Diskursen, nicht aus konkreten Erfahrungen.
Insbesondere der rational geprägte Diskurs der Moderne wie auch dessen
Kritik durch Vertreter der Frankfurter Schule schied gefühlsbezogenes Design, das mit
der subjektiven ästhetischen Erfahrung korrespondiert, als adäquates Mittel für
positive Veränderungen aus. Wolfgang Fritz Haug legte in seinem 1971 erschienen Werk
»Kritik der Warenästhetik« dar, daß Design, welches die subjektive ästhetische Erfahrung
in Form von Werbung oder käuflicher Warenästhetik anspricht, allzu
willensschwache Konsumenten zum Kauf verführt und diese in die Zwangslage bringt, immer mehr
Arbeitszeit aufwenden zu müssen, um immer schönere und angenehmere Dinge
kaufen zu können, für deren Genuß letztlich keine Zeit übrig bleibt. Design fördert
nach dieser Auffassung mit der Ästhetisierung von Produkten in erster Linie nicht die
Lebensqualität der Endnutzer, sondern die Unternehmensgewinne. Viele Designer
vermeiden es daher, am Empfinden der Nutzer orientierte, gefühlsbezogene
ästhetische Mittel einzusetzen und bevorzugen funktionale, objektive ästhetische Kriterien.
Inzwischen sprechen jedoch viele Anzeichen dafür, daß sich das
Konsumentenverhalten mit der Gewöhnung an das verfügbare Produktangebot gewandelt hat.
Konsumenten wählen gezielter nach Bedarf und Kaufkraft aus, wobei das Praktische und das
jeweils als schön Erachtete keine Gegensätze sind. Funktionale Produkte, die zudem
einen subjektiven, gefühlvollen Zugang erlauben oder fördern, werden nachgefragt.
Kritik an der Konsumgesellschaft bleibt aber weiterhin angebracht. Zu beachten
ist, daß die aktuelle Tendenz zur Individualisierung neben dem Konsum von
Produkten, welche legitimerweise zur Inszenierung der individuell, nach persönlichen
Lebensumständen ausgerichteten Lebensqualität genutzt werden, auch die demonstrative
zur Schau Stellung von Produkten als in verschiedensten Formen überdimensionierten
Statussymbolen befördert. Solche Statusprodukte beschneiden häufig den
Lebensraum anderer Menschen und begünstigen die Verfestigung von etablierten,
wirtschaftlichen Machtstrukturen. Zudem degradieren sie unkritische, sich von den
Statussymbolen blenden lassende Konsumenten weiterhin zu »Konsumäffchen« (vgl.
H. H. Karmasin, 1993, 1993), die bereits das Konsumieren an sich mit Lebensqualität verwechseln.
Es wäre falsch, aus dieser Problemlage die weitgehende Ablehnung von Gefühle
animierendem oder in anderer Weise subjektiven ästhetischen Kriterien folgendem
Design abzuleiten. Die Entwicklungen der 80er Jahre haben dazu beigetragen, das an
konsumkritischen Argumenten fixierte Problembewußtsein der Designer aufzulockern
und die Wichtigkeit von alle Sinne ansprechenden, gefühlvollen Gestaltungsaspekten
anzuerkennen. Das ist bedeutsam, weil die Problematisierung und versuchsweise
Bewertung und Umsetzung von Ästhetischem nicht denjenigen überlassen werden sollte,
die im Gegensatz zu den beschriebenen kritisch engagierten Auffassungen Design
schlicht als wirtschaftlichen Faktor sehen. Diese Sichtweise birgt die Gefahr, daß das
Verständnis von Ästhetischem ohne die notwendige kritische Reflexion und Erneuerung des
bewährten Wissens allein in Hinsicht auf kalkulierbare, wirtschaftliche
Verwertbarkeit reduziert würde. Das Engagement für ästhetisch differenzierte Entwürfe von
möglichen und sinnvollen Perspektiven für verbesserte oder zukünftige Lebensweisen und
Lebensverhältnisse hätte dann seine zentrale Stellung im disziplinären
Selbstverständnis endgültig verloren. Dies wäre umso bedauerlicher, als derzeit die Möglichkeiten
durch Computertechnologie solche Entwürfe erlebbar und erprobbar zu präsentieren
immer leistungsfähiger werden und die Disziplin gerade jetzt die Chance hätte, mit
visionären Projekten ein größeres Publikum als den jeweiligen Auftraggeber zu erreichen.
Deshalb ist es notwendig, die nach wie vor häufig mit der Bewältigung von
schwerpunktmäßig emotional oder ästhetisch definierten Designaufgaben verbundene
Unsicherheit, Ungeübtheit und Skepsis zu überwinden. Designer, welche in diesen
Bereichen, zum Beispiel der Wohnmöbelbranche, arbeiten, werden häufig innerhalb der
Profession nicht ernsthaft anerkannt. Wichtiger als die innerdisziplinäre
Anerkennung kann jedoch die Akzeptanz der fachspezifischen Kompetenz in einem
interdisziplinären Team sein. Hierzu können Designer verschiedene, sich gegenseitig ergänzende
Ausdrucksformen wie verbale Argumentation, erklärende Skizzen, Entwurfsreihen,
Modelle, Vergleichsbeispiele usw. nutzen und auf diese Weise ihre theoretische und
praktische ästhetische Kompetenz einbringen. Die folgenden Analysen zu einer
designspezifische Theorie von Ästhetik können insbesondere für die verbale Argumentation
Hilfen anbieten. Darüber hinaus regen sie zur Reflexion des disziplinären
Selbstverständnisses an und wirken dadurch auf die praktische Designtätigkeit zurück. Die
entscheidende Reflexionsebene im Designprozeß bildet der Mensch mit seinen
Anforderungen an Design. Dieser Mensch ist auch in seiner Rolle als Konsument oder
Nutzer längst nicht mehr der orientierungslose Irrläufer dem durch Design der rechte
Weg gezeigt weden muß, sondern ein bewußter Akteur. Er erwartet von Design anstelle
von Bevormundung die zur Verfügungstellung verläßlicher Bezugspunkte oder
erweiterbarer Bezugssysteme für seine selbstgesteuerten Aktionen. Diese Bezüge sollten
sich nicht aufdrängen, sondern als wählbare Angebote präsent sein. Das disziplinäre
Selbstverständnis und die Kernkompetenz von Design sollte daher auf die Analyse von
differenzierten Erfahrungen, Wirklichkeiten und Lebenswegen von Menschen
ausgerichtet sein sowie auf deren qualitative, praktische Umsetzung und nicht in der
Anhäufung von disziplinintern kanonisiertem Wissen stecken bleiben. Es geht für
Designer darum zu lernen, Gefühle und Intellekt nicht gegeneinander auszuspielen, sondern
in ihrer Bezogenheit zu verstehen und ihren Beitrag zur Gestaltung einer Kultur zu
leisten, in der die vielfältigen Facetten des Menschseins nebeneinander bestehen
und sich gegenseitig befruchten können. Dementsprechend ist die ästhetische
Kompetenz der Designer aus der formalästhetischen Verengung zu befreien und hinsichtlich
der Unterschiedlichkeit qualitativer ästhetischer Erfahrung weiterzuentwickeln.
Dafür bieten sich zwei Perspektiven an, die in Korrespondenz zu den hervorgehobenen
antizipierenden Organisationsoptionen zu entwickeln sind.
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