4.1 Modell zur Organisationsdynamik der sozialen Komponente
Anknüpfend an Luhmanns Theoriemodell (vgl. Luhmann, 1984) ist davon auszugehen, daß soziale Systeme durch Kommunikation
entstehen und sich nicht etwa aus Individuen zusammensetzen. Zu dieser Annahme gehört die Trennung zwischen Bewußtsein und
Kommunikation, die in dem vorliegenden Untersuchungszusammenhang als verschiedene Dimensionen des Selbstkonzepts, der
Ausrichtung auf Selbstreflexion oder Kommunikation, analysiert werden. Die Individuen können sich als soziale Akteure nur durch ihre
Mitwirkung an der Kommunikation aktiv an dem Erhalt, der Entstehung oder Veränderung sozialer Systeme beteiligen. Ob und wie
weitgehend sich Individuen für soziale Systeme engagieren, hängt maßgebend von der persönlichen Wahrnehmung der kommunikativen
Dimension und deren Einfluß auf die ästhetische Erfahrung ab. Das im folgenden zu entwickelnde Modell für die Organisationsdynamik der
sozialen Komponente bezüglich der Erfahrung (vgl. Abbildung 8) ist daher darauf angelegt, die Wahrnehmung der sozialen Dimension von
Erfahrung detailliert analysieren zu können.
Elementare Grundlagen für das Entstehen sozialer Organisationen erwachsen aus dem biologisch determinierte Zusammenleben von
Menschen wie der Angewiesenheit des Neugeborenen auf Schutz und Nahrungsversorgung. Von der biologischen Notwendigkeit des
sozialen Miteinanders, ist jedoch nicht auf eine sozusagen natürlich sich ergebende soziale Beziehungsform wie beispielsweise der zweckvoll
deterministischen Struktur eines Bienenstaats zu schließen. Wie etnologische Forschungen belegen, läßt sich keine universale
Entwicklungslogik für das soziale Leben feststellen. Vielmehr sind verschiedene Varianten oder differenzierte Ausformungen des sozialen
Miteinanders unterschiedlicher Völker in Gegenwart und Historie beobachtbar. Das im folgenden zu entwickelnde Modell soll daher keine
detaillierte Darstellung der möglichen sozialen Beziehungsformen bieten. Für eine solche Detailanalyse wäre eine starke Bezugnahme auf
aktuelles sozioempirisches Forschungsmaterial notwendig, die mit der vorliegenden Untersuchung nicht geleistet werden kann.
Doch auch die verschiedenen, in Details gehenden Studien zu sozialen Milieus können die soziale Verfassung einer Gesellschaft niemals
adäquat abbilden. Dieses Problem wird durch die unterschiedliche Anzahl der von den Studien angenommen Milieus deutlich. Insbesondere
ist zu fragen, ob diese Studien, deren Grundlagen vor der Wiedervereinigung entstanden und von der Zeitstimmung der 80er Jahre geprägt
sind wie insbesondere »Die Erlebnisgesellschaft« von Schulze heute noch genügend Aussagekraft besitzen. Das Milieumodell erfaßt die
soziale Dynamik nur ungenügend. Dies belegt das Entstehen von vielfältigen milieuübergreifenden, junge und alte Menschen
ansprechenden Szenen. Daher hat das Szenemodell das Milieumodell bezüglich der Erfassung von Konsumbedürfnissen im Bereich der
temporären Konsumgüter wie Kleidung oder Nahrungsmittel abgelöst. So beschäftigt sich beispielsweise Gerd Gerken mit der Entwicklung
von Szenen in virtuellen Räumen. Ob die sozialen Akteure noch lange gemäß dem Szenemodell handeln werden, wenn die Szenen zum
Kampfplatz der Marktstrategen werden, ist fraglich. Die Analyse der Szenen verlangt, viel Detailwissen und ist im vorliegenden
Zusammenhang nicht weiter verfolgbar.
Demgegenüber ist beispielsweise das durch Karmasin adaptierte Modell von Douglas praktikabler, weil es sich nicht nur auf die Analyse von
Märkten, sondern auch auf andere Arten von sozialen Beziehungen anwenden läßt und je nach Bedarf und Problemstellung spezifisch
weiterentwickelt werden kann. Mit der Definition der »fatalistischen Kultur« können sich jedoch nur wenige Menschen identifizieren und die
»individualistische Kultur« bezeichnet eine Summation von Individuen, also im strengen Sinne kein soziales Beziehungsmuster. Zudem
enthält die Kennzeichnung der individualistischen Kultur negative Konnotationen dahingehend, daß es suggeriert, jeder könne tun was er
will. Um die daraus ableitbare, vereinfachende Konfrontation zwischen dem Sozialen und dem Individuellen zu vermeiden und um beiden
Bereichen in ihrer Wichtigkeit als korrelative Komponenten der Erfahrungsdynamik gerecht zu werden, geht der Grundansatz der
vorliegenden Untersuchung davon aus, daß die Trennung und gleichwertige Beachtung der selbstbezogenen und der kommunikativen
Dimension von ästhetischer Erfahrung sinnvoller ist (vgl. Kapitel 2). Nachfolgend wird daher ein Modell für die Organisationsdynamik der
sozial bedingten Komponente entwickelt, das zwar ähnlich dem Kulturmodell von Douglas die Ausbildung typischer Orientierungsmuster
bezüglich der Wahrnehmung und Erfahrung des Sozialen annimmt, diese jedoch in anderer Weise kennzeichnet.
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