2.2.3 Imaginative Qualität als bewußt gefühlte Akzentuierung
ästhetischer Erfahrung und prospektive Aktualität von Design
Design oder visuelle Kommunikation haben in vielen Bereichen die Aufgabe,
Orientierung für praktisches Handeln anzubieten. Zum Beispiel machen medizinische
Illustrationen dem Laien verständlich, wie die Immunabwehr funktioniert. Schemata
und Diagramme zeigen ökonomische oder ökologische Zusammenhänge auf, das Design
einer Fernbedienung erleichtert dem Benutzer die Bedienung durch logische,
leicht lernbare Tastenanodnungen und -bezeichnungen, oder handliche, kombinierte
Stadt- und Fahrpläne verschaffen auf einen Blick eine erste, zuverlässige Orientierung.
Deshalb liegt nach Martin Krampen das Spezifikum der visuellen Kommunikation in
der Möglichkeit, Erkenntnisse zu komplexen Sachverhalten, die in einer
verballinearen Folge praktisch unbeschreibbar sind, fehlerfrei zu verbreiten (vgl. Krampen in:
EPWT, Art. Kommunikation, visuelle). Krampens Definition von visueller
Kommunikation betont deren nützliche Vermittlungsfunktion. Diese zu gestalten ist ein
unbestritten wichtiger Aufgabenbereich für Designer. Doch dieser muß auch die Frage nach
der Bedeutung oder Wirkung einer dem Rezipienten vermittelten Erkenntnis in dessen
Erfahrungsfluß einschließen. Das heißt, bezüglich der imaginativen, am
Orientierungswert ausgerichteten ästhetischen Erfahrungsqualität von Design oder visueller
Kommunikation geht es um die Einbindung von Erkenntnis unter Berücksichtigung der
inneren Orientierung der Rezipienten. Die visuelle oder, für Design im allgemeinen,
die sinnlich erfahrbare Präsentation von Vorstellungen, Ideen oder Phantasien
befriedigt nicht nur eine der momentanen Orientierungssuche entspechende
Informationsfunktion, sondern kann auch eine imaginative Qualität innerhalb der
Erfahrungsdynamik annehmen. Deshalb ist das Angebot von unterschiedlich gestalteten und
verschiedene Schwerpunkte betonenden Stadtplänen sinnvoll. Das gestalterische Ziel, den
Menschen durch Design die Orientierung zu erleichten, wird oft durch einseitig
ausgerichtete Komplexitätsminderung und Ordnungssteigerung konkretisiert. Zu bestimmten
Orientierungsproblemen gibt es aber nicht nur jeweils eine beste Erkenntnis und deren
Umsetzung durch ein optimales Design. So möchte ein Urlauber selten auf dem
schnellsten Weg sein ausgewähltes Ziel in einer Stadt erreichen. Er benötigt einen
Stadtplan, der, weniger den weltbezogenen Orientierungsnutzen, als vielmehr den inneren,
erfahrungsbezogenen Orientierungswert, die imaginative Qualität, fördert, indem nicht
die kürzeste, sondern eine auf das Ziel einstimmende Wegeführung hervorgehoben ist
oder entsprechende Vorschläge für eigene Zusammenstellungen angedeutet werden.
Inzwischen hat sich mit der veränderten Vorstellung zur vieldimensionalen
Dynamik von Erkenntnis auch die Einstellung zur Definition von Design gewandelt.
Genauso, wie es verschiedene mögliche Erkenntnisrichtungen gibt, die von dem
gleichen Problem ausgehend zu mehreren richtigen Lösungen führen, können
verschiedene, jeweils für sich gute Designlösungen entwickelt werden. Die Entscheidung für eine
Lösung muß kontextbezogen erfolgen. Eine beste Lösung für alle denkbaren
Sonderfälle kann sich nur auf dem Niveau des kleinsten gemeinsamen Nenners bewegen.
Dieses reicht zwar in Notsituationen aus, stellt jedoch im Einzelfall eine dogmatische
Beschneidung menschlicher Lebensqualität dar. Insbesondere die imaginative
Qualität der bewußten ästhetischen Erfahrung erhält zu wenig Impulse. Sie entsteht
innerhalb der Erfahrungsdynamik immer wieder neu und ist an die Kraft der Kreativität
gekoppelt. Zur imaginativen Qualität gehört die Vorstellung von ständigen
Veränderungen und Zukunftsoffenheit im positiven Sinne. Sie wird als Faszination an
Möglichkeiten erlebt, deren Konkretisierung nicht zwangsläufig erfolgen muß. Bewußte
Erfahrungskomponenten wie das eigene Selbst, die Mitmenschen und die Welt sind nicht
statisch definiert, sondern werden innerhalb der bewußten Erfahrung immer wieder anders
entworfen und erhalten veränderte Bedeutungen.
Sobald Menschen mehr Freiraum haben, selber zu denken, zu gestalten und
ihre imaginative Erfahrungsqualität auszuleben, benötigen sie die Unterstützung durch
Designprofis weniger in Form von formalisierten ästhetischen Lösungsstandards als
vielmehr durch vielfältige, die Verschiedenheit der inneren Erfahrungsdynamik
berücksichtigende und ihren Verlauf vorausschauend einbeziehende ästhetische
Orientierungsangebote. Wie dieses individuelle, prospektive Design produktionstechnisch
ohne Verteuerung oder Qualitätsminderung der Produkte und ohne zusätzliche
Umweltbelastung umgesetzt werden kann ist ein gesellschaftlich zu lösendes Problem, das
nicht ausschließlich und in erster Linie die Berufsgruppe der Designer betrifft. Obwohl
alle diese Produktionsprobleme für die Entwicklung eines Designkonzepts wichtig
sind, bleibt doch die Beachtung und Ausrichtung von Design an der bevorzugten
ästhetischen Erfahrungsqualität für die Interaktion oder Kommunikation zwischen
Nutzern und Lebenskontext die fachspezifische Aufgabe von Design. Hier kann der
Designer seine ästhetische Kompetenz einbringen, um für den Nutzer passende Lösungen
anzubieten, ohne ihm ein ästhetisches Glaubensbekenntnis aufdrängen zu wollen.
Selbst wenn Design primär durch Erkenntnisvermittlung und Orientierungshilfe
definiert wird, ist es im Hinblick auf die Dynamik und Vielfalt menschlichen Lebens und
der damit verbundenen Erkenntnisdynamik und Orientierungsvielfalt anzustreben,
differenzierte Designlösungen zu einem Problemfeld zu entwickeln.
Für die disziplinäre Entwicklung müßte aus diesen Überlegungen der Schluß
gezogen werden, daß es besser ist, die Kompetenz der Designer darauf zu trainieren,
mehrere gute Lösungen zu einer Problemdefinition zu finden und ein waches
Bewußtsein für qualitative Lebensvielfalt zu entwickeln als sich auf die Idee einer
Optimallösung zu fixieren. Durch die Zurücknahme des ästhetischen Wahrheitsanspruchs seitens
des Designs steigen jedoch auch die Anforderungen an den Nutzer hinsichtlich der
Bewußtwerdung seiner Prioritäten bezüglich der ästhetischen Erfahrung sowie der
Bildung seines persönlichen ästhetischen Urteilsvermögens. Wie die Ausrichtung von
Design auf die prospektive Aktualität förderlich für die Priorität der imaginativen
Qualität der ästhetische Erfahrung wirken kann, wird in der anschließenden Analyse
(vgl. Punkt 2.4) untersucht.
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